Leistungsbetrüger

Peter Fratton

Heute las ich mit leichtem Befremden den Satz eines durchaus begnadeten Pädagogen: Die Kinder in der heutigen Schule werden nur noch auf Leistung getrimmt. Wir müssen endlich einsehen, dass dieses Leistungsprimat die kindliche Seele zerstört. Nur im Spiel kann das Kind seine Seele entdecken. Der Zusammenhang, indem diese Meinung geäussert wurde, ist die Kontroverse um den Sinn von Hausaufgaben.

Die Meinung, dass Hausaufgaben wenig Sinn geben, deckt sich mit meiner recht genau. Aber damit Leistung zu diskreditieren widerstrebt mir sehr. Ich bin der Überzeugung und fühle mich durch meine Erfahrung bestätigt, dass Leistung die beste Form der Persönlichkeitsbildung ist. Dieses tolle Gefühl, etwas erreicht zu haben, das ich mir im Voraus nicht zugetraut hätte, ist überwältigend. Nicht so toll ist es, wenn es nicht gelingt. Hoffentlich habe ich dann jemand an meiner Seite, der mich bei Bedarf begleitet, denn hier bedarf es der Erkenntnis, dass Misslungenes nicht auch gescheitert ist. Alles, was gelingen kann, kann auch misslingen. Kinder – aber auch Erwachsene – müssen immer wieder die Erfahrung machen dürfen, an Misslungenem zu lernen und zu wachsen. Erst wenn der Fehler nur falsch ist und der Erzeuger ein Fehlbarer, kann man auf die Idee kommen, Kinder so vor Fehlern zu bewahren, indem man keine Leistung fordert. Die Umsetzung dieser Idee bewirkt, dass wir die Kinder um ihre Leistung betrügen. Wir berauben sie des Kapitals, das Wachstum ermöglicht. 

Und doch: Wenn wir von Leistung reden, sollten wir zwischen zwei Formen unterscheiden, nämlich der fremdverlangten und der eigenverlangten Leistung. Das Kennzeichen jeder Leistung ist die Erreichung eines oder mehrerer Ziele. Natürlich darf ich mir auch zugestehen, dass ich gelegentlich kein Ziel habe. Ich bin einfach nur da, geniesse den Moment und den Augenblick. Nur ist dieses Da-sein stets der Ausganspunkt zum nachfolgenden Dort-sein. Die Leistungsbetrüger unter den Erwachsenen vermitteln den Kindern: Es genügt, wenn du da bist und nehmen dem Kind die Hoffnungsfreude am Dort-sein-können.

Wir sollten Kinder im Interesse ihres Wachstumspotenzials zu eigenverlangter Leistung ermutigen, ja, es ist unsere vornehmste Aufgabe als Begleiter von Kindern, sie nicht nur zu ermutigen, sondern sie zu befeuern, in ihrer Leistung nicht nachzulassen, bis sie sich an ihrem erreichten Ziel erfreuen können. Denken wir daran, wie leistungsfördernd das Befeuern auf Sportler wirkt, dann haben wir eine Idee davon, was wir unseren Kindern durch unseren Ansporn ermöglichen. Aber anspornen ist nicht stossen!

Leider ist der pädagogische Narzissmus von Eltern und Lehrern der häufigste Grund für die Unfähigkeit, zwischen der eigenverlangten Leistung des Kindes und der fremdverlangten von uns selber genügend unterscheiden zu können. «Ein Kind, das seine Mutter lieb hat, macht seine Aufgaben gern», formulierte Watzlawick in einer der Episoden im lesenswerten Büchlein «Anleitung zum Unglücklichsein». Erst wenn wir unsere Leistungswünsche ans Kind, die wir durchaus haben dürfen, von seinen eigenen unterscheiden können, dürfen wir in den Befeuerungsmodus wechseln. Erst wenn wir uns eingestehen, dass wir durch aufrichtiges Nachfragen vielleicht wissen können, was das Kind wirklich will, und erst wenn wir unsere eigenen Willensprojektionen heraussieben können, werden wir staunend erkennen, wie leistungsfreudig und leistungswillig unsere Kinder sind und niemals mehr werden wir sie um ihre Leistung betrügen oder uns gar zur vernichtenden Aussage hinreissen lassen: Er könnte schon, er ist nur zu faul.

Ein Wort zur fremdverlangten Leistung, um die wir im Alltag nie ganz herum kommen: Hier gilt die einfache Forderung: Wer Leistung will, muss Sinn bieten, sonst erntet er zu recht Zwang, Widerstand, Unwilligkeit, Abneigung und Lethargie.

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