Wenn ich die Unsinnigkeiten über die Nachteile von Schulschliessungen und des Home schoolings lese und wenn ich die Bedenken und wissenschaftlichen Begründungen studiere, die von «verlorenem Jahr» über «schwierige Prüfungsformate» bis zur angeblichen Lohneinbusse in späteren Zeiten reichen, dann mischen sich in mir Wut und Unverständnis.
Wut deshalb, weil bei den Begründungen von einer für unabänderlich geglaubten Situation ausgegangen wird, wie wir sie in so vielen Schulen tatsächlich noch antreffen und die in der heutigen Zeit längst überfällig ist, und Unverständnis, weil nicht erkannt wird, was Coronaumstände doch zeigen: Wie die übliche Schule mit dem üblichen Lernen, wo alle zur gleichen Zeit die gleichen Ziele beim gleichen Lehrer im gleichen Raum im gleichen Tempo mit dem gleichen Lehrmittel gleichgut erreichen müssen, auf ganzer Ebene versagt. Die alten Strukturen zeigen deutlich ihr Verfallsdatum auf und wenn man es sucht, fände man wohl eines wie 1.1.1820.
Vor Corona konnte man sich mit dem gängigen System noch ganz gut durchwursteln, weil es sich vor allem selber erhält: Die Lerninhalte werden von der oberen Stufe von der unteren gefordert, fernab aller Lebensinhalte. Wer also Kindergärtnerin werden will, braucht eine päd. Hochschule und für die Aufnahmeprüfung in die Mittelschule wird Französisch, Deutsch und Mathematik geprüft, also Fachkompetenzen, die offenbar für eine Kindergärtnerin ausschlaggebend sind, ausschlaggebender als Sozial- und Selbstkompetenz. Die Schule vor Corona ist im Allgemeinen nichts als eine Beibringindustrie. Lernen ohne Beziehung und Bezug ist Alltag. Prüfungen gut zu absolvieren ist der einzige Bezug.
Dabei stellt Lernen an sich noch keinen Wert dar, es braucht immer einen Bezugspunkt und es braucht Beziehung. Diese können zu unterschiedlichen Lebensqualitäten führen. Je mehr die Bezugspunkte Sinnhaftigkeit für Lebensprozesse beinhalten, ums mehr Qualität besitzen sie. Über Noten und Zensuren verschafft die Beibringindustrie Bezugspunkte, die Lebensprozesse plastifizieren, ihre Lebendigkeit invalidisiert und die Sinnhaftigkeit zur Scheinwesentlichkeit reduziert. Sie genügt sich in sich selbst durch die Produktion von quantifizierbarem und zeitoptimiertem Fliessbandwissen. Das Selbstverständliche weicht dem Unverständlichen und Unverstandenem und Herzensangelegenheiten werden zu unpersönlichem Intellektmüll verstümmelt, der in der universitären Verbrennungsanlage kaum mehr als einen Smog von Zitierrauch erzeugen kann. Ja, es gibt durchaus auch eine intellektuelle Umweltverschmutzung. Corona zeigt diese Verschmutzung deutlich auf an der Tatsache, dass Schulschliessung und Home schooling die Beibringindustrie (endlich) an ihre Grenzen bringt. Hoffen wir, dass die Pandemie es ermöglicht, dass es ein Lernen vor und eines nach Corona gibt und die beiden sich von den Lebensbezugspunkten genauso unterscheiden mögen wie von der Lernform her. Aus erziehen möge begleiten entstehen, aus beibringen teilhaben und aus der vorschnellen Erklärung Zeit, zu erfahren und zu reflektieren. Anstelle von Spitzers „digitaler Demenz“ kann so die digitale Intelligenz Platz greifen. Nur: W-Lan und iPads genügen nie. Sie helfen zu mehr Beziehung und sinnhaften Bezugspunkten, aber sie sind sie nicht.
Irritation ist zuweilen erforderlich, um ein erstarrtes System in Bewegung zu bringen oder gar ein Umdenken anzustossen. Die Chancen sind da und einige innovative Schulen nutzen die Gelegenheit, welche sich durch diese Situation ergibt. Ein Beispiel aus Murcia mit „Unterricht am Strand“ kann zeigen, in welche Richtung es sich bewegen könnte … auch wenn mich die Tischordnung und die Wandtafel am Strand immer noch irritiert.
https://www.spiegel.de/panorama/bildung/freiluftschule-in-spanien-pauken-im-sand-a-32a83eb3-2b07-4ebb-be8e-5eae4c31d7b0-amp?xing_share=news
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