Demokratie erleben im Haus des Lernens

Demokratie in allen Formen ist in erster Linie eine Frage der bestmöglichen Legitimation einer Entscheidung und nicht der bestmöglichen Lösung eines Problems. Diese Unschärfe müssen wir Lehrer akzeptieren, wenn wir in der Schule Demokratie leben wollen.

In der Schweiz ist derzeit eine Diskussion im Gange über die Anzahl Lektionen im Fach Geschichte. Es wird befürchtet, dass die Jugendlichen mit einer reduzierten Anzahl von Geschichtsstunden «noch weniger Verständnis für das Wesen der Demokratie» haben. 

Geschichtsunterricht reicht nicht

Doch reiner Geschichtsunterricht reicht nicht aus, um ein tiefes Demokratieverständnis zu fördern – Demokratie muss nicht nur in der Theorie gelernt, sondern im Lernalltag auch erlebt und mitgestaltet werden. Der Geschichtsunterricht vermittelt wichtiges Wissen über die Entstehung demokratischer Systeme, bleibt dabei aber theoretisch und rückwärtsgewandt. Demokratie ist jedoch mehr als ein historisches Konzept – sie ist eine lebendige Praxis, die im Lernalltag eingeübt werden muss. Schule bietet dafür im Allgemeinen keinen idealen Lernort: Wenn Schülerinnen und Schüler mitbestimmen, dann allenfalls in Klassenräten oder Schulversammlungen als Angehörte. Das genügt nicht, denn nur wenn sie unmittelbar erleben, was Mitverantwortung, Entscheide tragen und Beteiligung wirklich bedeuten, werden demokratische Werte wie Akzeptanz, Respekt und Kompromissfähigkeit nicht nur thematisiert, sondern im sozialen Miteinander gelebt. Nur durch aktive Erfahrung kann politische Mündigkeit langfristig gefördert werden. Die LehrerInnen, die Schulleitungen aber vor allem auch die Verwaltung und die Politik fürchten sich vor der Umsetzung demokratischer Strukturen an Schulen im Sinne der Selbstregierung. Sie erlauben bestenfalls Selbstverwaltung, was hingegen keine demokratische Errungenschaft ist: Verwalten kann auch der Untertan, sogar der Häftling oder eben auch der Schüler im Schülerbeirat, nicht aber regieren.

Das Haus des Lernens als «Kleine Schweiz» – Demokratie im Alltag

Ein Haus des Lernens ist eine kleine Schweiz, in dem die drei Säulen der Demokratie, die Gewaltentrennung, im Lernalltag gelebt werden: Legislative, Exekutive und Judikative.

Die Legislative: Die Lernpartnerversammlung (LPV)

Die Legislative ist die oberste demokratische Instanz, die Versammlung aller LernpartnerInnen, LernbegleiterInnen und übrigen MitarbeiterInnen (LPV). In Häusern des Lernens in denen eine Vollversammlung aus Platzgründen nicht möglich ist, gibt es die Grosse Kammer bestehend aus den gewählten Vertreterinnen der Lernpartnerinnen und die Kleine Kammer mit den gewählten Vertreterinnen der Lernbegleiterinnen. Sie entscheiden, welche Regeln und Ordnungsprinzipien auf der Grundlage der Bildungsvereinbarung (nicht zufällige Abkürzung: BV, wie Bundesverfassung) Eingang in das Organisationsreglement finden. Aktuelles Beispiel: Soll es im Haus des Lernens ein Handyverbot geben? 23% der LernpartnerInnen (SchülerInnen) und 12% der Lernbegleiterinnen (LehrerInnen) sprachen sich dafür aus. Damit war die Handynutzung weiterhin erlaubt. Nun musste sich die LPO, die Lernpartnerorganisation, die Exekutive, mit den Fragen der Umsetzung beschäftigen. In einer ICT-Vereinbarung schlägt die LPO Ordnungsprinzipien vor, wie mit dem Handy umgegangen werden soll, z.B. Artikel 1: Telefonieren und Nutzung von sozialen Medien ist nur ausserhalb der Präsenzzeiten erlaubt. Der Vorschlag für die ICT-Vereinbarung wird in der Grossen und Kleinen Kammer oder in der LPV diskutiert und darüber abgestimmt. Wenn die Mehrheit der LPV oder je die Mehrheit der Grossen und Kleinen Kammer zustimmen, wird die ICT-Vereinbarung für einen Monat provisorisch in Kraft gesetzt und nach dieser Zeit über Nutzung und Wirkung diskutiert, eventuell modifiziert und schliesslich definitiv in Kraft gesetzt.

Wenn in Kantonen oder Bundesländern von der Regierung diktatorisch entschieden wird: Handy-Verbot an Schulen, ohne die Betroffenen mitentscheiden zu lassen, sehen wir das eher als Autokratie denn als Demokratie. Etliche Politiker reden das schön: «Man kann doch die Schulen mit diesen Entscheiden nicht alleine lassen.» Einfache Frage: Warum nicht? 

Die Exekutive: Die Lernpartnerorganisation

Die Exekutive in einem Haus des Lernens ist die Lernpartnerorganisation (LPO). Sie ist die Regierung bestehend aus 5 durch die LPO für ein Jahr gewählten Mitgliedern, begleitet durch eine Vertretung des Rektorates ohne Stimmrecht. Die Exekutive hat die die Aufgabe, die vier Postulate umzusetzen und dazu die notwendigen Ordnungsprinzipien zu erlassen.

Je nach Lernhaus sind den Mitgliedern Departemente zugeteilt. Üblicherweise sind es vier: die Departemente «Respektvoller Umgang», «Autonome Lernformen», «Gestaltete Umgebung» und «Ins Gelingen verliebt sein». Ein LPO-Mitglied amtet als Präsidentin. Zwei Vertreterinnen nehmen an den Konventen teil, die von den Behörden vorgeschrieben sind. Dem Departement «Respektvoller Umgang» sind die gewählten Respektlotsen zugeteilt. Diese achten darauf, dass überall und jederzeit respektvoll umgegangen wird mit Menschen, anderen Lebewesen, Räumen und Materialien. Am Schluss eines Lerntages machen sie den Achtsamkeitsrundgang durch das ganze Lernhaus. Zum Beispiel achten sie bei allen Aushängen und ausgestellten Arbeiten darauf, dass das eingetragene Enddatum eingehalten wird. Sie schlichten bei Konflikten und achten auf die Einhaltung der Regeln bei allen Beteiligten, also bei Lernpartnerinnen, Lernbegleiterinnen, anderen Mitarbeiterinnen, Eltern etc. Respektlotsen haben eine zweitägige Ausbildung für ihre Arbeit erhalten und beziehen in einigen Häusern des Lernens gar einen kleinen Lohn. Bei Regelverstössen beantragen sie beim Lernpartnergericht die Verfügung für eine mündliche oder schriftliche Ermahnung. Das heisst, alle sogenannten disziplinarischen Probleme werden durch die Lernpartnergremien gelöst. Natürlich sind in allen Häusern des Lernens auch promotions- und verwaltungstechnische Aufgaben nach staatlichen Vorschriften zu beachten, die nicht das konstruktive Miteinander betreffen. Diese werden, wie an jeder Schule, durch das Rektorat und die Konvente umgesetzt. 

Wie bereits erwähnt müssen alle gültigen Regeln im OR festgehalten werden und keiner darf Verhaltensweisen sanktionieren, die ausserhalb dieser schriftlichen Festsetzungen sind. Kein Lernbegleiter darf z.B. ein Kind «nachsitzen» lassen, wenn es dazu keine Formulierung im OR gibt.

Jeder Lernpartner und jeder Lernbegleiter aber auch Mitarbeiter haben ein Initiativrecht, das ihnen erlaubt, eine Initiative zu starten mit dessen Inhalt sich die LPV auseinandersetzen und darüber abstimmen muss. Die Initiative muss von mindestens 25 Mitglieder unterschrieben sein.

Eltern haben ein Referendumsrecht. Sind sie mit einer Entscheidung der LPV oder der LPO nicht einverstanden, können sie das Referendum ergreifen und eine neuerliche Abstimmung unter Berücksichtigung des Referendumstextes einfordern. Der Referendumsantrag muss von 5 verschiedenen Eltern unterschrieben sein.

Die Judikative: Das Lernpartnergericht

Das Lernpartnergericht (LPG) ist die Judikative. Sie verfügt im Falle von Normbrüchen die Konsequenzen. Vorwiegend verfügt es mündliche oder schriftliche Ermahnungen. Dabei sind mündliche Ermahnungen Reaktionsformen für leichtere Normbrüche und schriftliche solche bei groben Normbrüchen. Nach einer bestimmten Zeit, z.B, nach einem Monat bei leichten und zwei Monaten bei groben Normbrüchen, kann der Ermahnte beim LPG einen Antrag auf Abbau der Ermahnung stellen. Dazu trägt er dem Richterinnen-Gremium seine Idee vor, die meistens eine Aktion zugunsten der Gruppe ist, z.B. Organisieren eines lernhausinternen Fechtturniers, Mitarbeit in der Mensa, Assistent eines Respektlotsen für drei Monate etc. Das LPG entscheidet, ob die Aktion dem Normbruch angemessen ist und trifft den Entscheid. Dieser könnte bei der LPV angefochten werden und entweder bestätigt oder ans LPG zurückgewiesen werden, was aber praktisch nie geschieht.

Haltung und Reversibilitätsprinzip – Regeln gelten für alle

Damit die Kleine-Schweiz-Idee funktioniert ist es unabdingbar, dass im Haus des Lernens die bereits in einem anderen Artikel erwähnte gemeinsame Haltung gelebt wird, dass die dort beschriebene Emergenz vorhanden ist. Wenn kein sehr gutes Vertrauensverhältnis innerhalb der LernpartnerInnen und der Lernbegleiterinnen besteht, muss ich von der Implementierung dringend abraten. Zu gross ist die Gefahr, dass Repektlotsen die Polizisten der LehrerInnen sind, sich niemand für die Aufgaben zur Verfügung stellt. Dann ist das normale autokratische Schulsystem – anhören ja, mitbestimmen nein – tauglicher. Weiter müssen die Lernbegleiter sich an das Reversibilitätsprinzip halten. Auch sie können gegen ein Ordnungsprinzip verstossen. Auch sie können eine Ermahnung bekommen. Auch sie müssen den Abbau ihrer Ermahnung dem LPG vortragen. 

Dazu ein eigenes Beispiel: Ich musste an der Freien Schule Anne-Sophie interimistisch die Grundschule leiten. Die Kinder hatten das Ordnungsprinzip: In den Korridoren darf nicht gerannt werden. Mein Büro befand sich im 2. Stock des Gebäudes und ich hatte die Angewohnheit, immer die Treppen hochzurennen. Nach dem zweiten Mal sagte mir eine Respektlotsin, dass ich beim nächsten Mal eine mündliche Ermahnung bekomme. Und beim dritten Mal wurde die Ermahnung ausgesprochen. Nach einem Monat meldete ich mich beim LPG. Es waren drei Mädchen aus dem zweiten und dritten Lernjahr und ich trug meinen Antrag vor: Ich reinige eine Woche lang die Toiletten.

Die Reaktion der Richterinnen: «Aber nein, das müssen Sie doch nicht.» «Doch, das mache ich.» «Ja, wirklich?» «Ja» «Dürfen wir zusehen?» «Ja, ihr könnt es kontrollieren.» «Dürfen wir sie fotografieren?» «Ja, das dürft ihr.» Noch heute habe ich das Erinnerungsfoto mit Kübel, Waschtuch, in Handschuhen in der Toilette.

Das meine ich mit dem Reversibilitätsprinzip.

Demokratie als gelebte Praxis

Auf diese Weise lernen die Kinder und Jugendlichen, was Demokratie bedeutet, wie sie gelebt wird, wie sich Minderheiten mit Entscheiden von Mehrheiten auseinandersetzen müssen, wieviel leichter, entspannter und lustvoller Demokratie ist, wenn sich trotz unterschiedlicher Ansichten Gruppen zusammenfinden. Und zum Schluss nochmals mein Eingangszitat: Demokratie in allen Formen ist in erster Linie eine Frage der bestmöglichen Legitimation einer Entscheidung und nicht der bestmöglichen Lösung eines Problems. Diese Unschärfe müssen wir Lehrer akzeptieren, wenn wir in der Schule Demokratie leben wollen.

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