Die KIK-Struktur – eine persönliche Erfahrung, ein spannender, eigener Lernprozess
Peter Fratton
Seit 1980 begleite ich junge Menschen auf ihrem Lernweg und seit 1994 auch auf der Oberstufe, auf die sich die nachfolgenden Gedanken beziehen. In all den Jahren habe ich beobachtet, wie vielfältig, individuell – und manchmal auch fragil – Lernprozesse sind.
Immer wieder war ich mit der Frage konfrontiert: Wie schaffen wir eine Lernumgebung, in der Lernen nicht nur funktioniert, sondern wirklich Sinn ergibt? Wer Leistung will, muss Sinn bieten. Wie ermöglichen wir es Lernpartner:innen, sich nicht nur Wissen anzueignen, sondern innerlich beteiligt zu sein?
Diese Fragen haben mich nicht mehr losgelassen – und sie führten mich zu einer höchst interessanten Auseinandersetzung mit dem Wesen des Lernens selbst.
Dabei hat mich eine Erkenntnis besonders geprägt und ich habe sie als eines meiner beiden Axiome für das autonome Lernen in der gestalteten Umgebung formuliert:
„Lernen ist eine Existenzform des Menschen.“
Dieses Axiom trifft für mich den Kern.
Denn Lernen ist nichts Schulisches. Es ist etwas Lebendiges, Ursprüngliches – ein Grundvorgang des Lebens selbst. Ohne Lernen keine Entwicklung, kein Leben. Schon eine einzelne Zelle «lernt»: Sie nimmt auf und entscheidet durch die semipermeable Membrane, was sie aufnimmt und was draussen bleibt, dann verarbeitet sie alles, was sie für ihr Wachstum und Leben braucht und gibt wieder ab. Dieser uralte Lebensablauf funktioniert nur dann gut, wenn er in einer Umgebung stattfindet, die für ihren Lebensprozess geeignet ist.
Genau das wollte ich auch für die Lernpartner:innen schaffen, mit denen ich täglich arbeite: Autonome Lern- und Lebensprozesse in einer dafür geeigneten Umgebung. Also begann ich – zuerst tastend, dann immer gezielter – mit einer Struktur zu experimentieren, die ich heute KIK-Struktur nenne:
Kontemplation – Input/Information – Konsolidierung.
Erste Phase: Kontemplation – der erste, stille Schritt zum Aneignungsprozess
Die KIK-Struktur beginnt mit einem Schritt, der in der Schule oft fehlt: der inneren Sammlung.
In dieser Phase sind die Lernpartner:innen allein im Lernatelier oder einem anderen passenden Ort ihrer Wahl. Keine Störung von aussen, kein Druck, kein Lernbegleiter, der etwas vorgibt oder eingreift. Nur die Begegnung mit einem oder mehreren Zielen aus dem Kompetenzraster – und die Einladung, sich zu fragen:
Was hat das mit mir zu tun? Wo berührt mich das? Es geht darum, dass die Jugendlichen an ihr Vorwissen andocken können. Dass sie entdecken und spüren: Das ist nicht nur Stoff – das hat etwas mit mir zu tun.
Wenn dieser Moment gelingt, dann geschieht etwas Entscheidendes: Der ursprünglich fremde Inhalt wird zum eigenen; er wird mir anverwandelt. Und erst so entsteht die Bereitschaft zur eigenverlangten Leistung – nicht, weil es jemand verlangt, sondern weil es von innen kommt, anverwandelt wird und sinnhaft.
Gelingt diese Verbindung nicht, bleibt das Lernen fremdverlangt – es wird zäher, mühsamer, weniger freudvoll, aber vielleicht trotzdem nötig und der zusätzliche Aufwand muss inkauf genommen werden.
In dieser Phase entstehen viele Fragen – echte, ehrliche, existenzielle. Diese Fragen werden auf Zetteln notiert und an einer „Fragewand zum Input“ aufgehängt – in Rubriken wie:
- Das finde ich selbst heraus,
- Das möchte ich mit jemandem klären,
- Das ist eine Frage für den Input.
Was mich stets von neuem bewegt: Wie viel schon in dieser stillen Phase geschieht – an Eigenverantwortung, Neugier, Offenheit.
Zweite Phase: Der Input – der Moment der Öffnung
Erst danach folgt der Input. Und er ist freiwillig.
Der Lernpartner entscheidet: Möchte ich mir jetzt Unterstützung holen? Dann besucht er die Inputinsel, wo ein Fachbegleiter einen Überblick, einen Zugang, eine Perspektive anbietet. Oder er sucht sich andere Lernpartner:innen und begibt sich auf den Marktplatz, wo Peer-to-Peer-Lernen als autonome Informationsbeschaffung stattfindet – oft dialogisch, suchend, lebendig.
Was mir dabei wichtig ist: Der Input soll Lust machen auf mehr. Er soll die Lernschleusen öffnen, nicht verstopfen.
In manchen Lernhäusern hat sich eine Zweiteilung des Inputs bewährt:
- Eine Faszinationsphase, die emotional berührt oder staunen lässt, weil ich als Fachbegleiter von meiner eigenen Faszination im mittelbaren oder unmittelbaren Zusammenhang mit der Kompetenz erzähle.
- Eine Anregungsphase, in der verschiedene Lernwege aufgezeigt werden, wie man sich der Kompetenz nähern könnte – oft mit Materialvorschlägen, digitalen Tools oder persönlichen Lerngeschichten.
Die Fragen aus der Kontemplation dienen als fruchtbarer Boden – nicht als starre Agenda. Nun geklärte Fragen werden wieder von der Fragewand entfernt. Offene Fragen können mithilfe von künstlicher Intelligenz weiterverfolgt werden – allerdings nie kritiklos: Wir üben gemeinsam, Quellen zu prüfen und Standpunkte zu hinterfragen.
Konsolidierung – Das Wissen setzen lassen
Die dritte Phase ist oft die entscheidende – und die am meisten unterschätzte: die Konsolidierung.
Hier wird geübt, ausprobiert, wiederholt, verändert. Hier wird das Gärende geordnet, das Neue integriert, das Verstandene gefestigt.
Ohne Konsolidierung, das habe ich immer wieder erlebt, zerfällt der Lernprozess.
In dieser Phase geben wir den Lernpartner:innen Zeit und Wahlfreiheit. Manche schreiben, andere sprechen, basteln, rechnen, gestalten, erklären oder programmieren. Manche sind in Bewegung, andere in Stille.
Es ist die Phase, in der aus Informationen und Nachdenkprozessen Kompetenz wird – nachhaltig, tragfähig und verbunden mit dem eigenen Bewusstsein und Fühlen.
Drei Phasen – ein ganzheitlicher Zyklus
Lernen braucht Zeit. Es braucht Struktur – aber nicht als starres Gerüst, sondern als atmenden Rahmen. Das gilt ganz besonders auf für die hier geschilderte KIK-Struktur. Unterrichts-, Stunden- und Lektionenrhythmen verhindern und blockieren Lernprozesse. Das selbstorganisierten Lernen muss dem autonomen weichen.
Wenn die KIK-Struktur gelingt, dann geschieht Lernen nicht mehr auf Zuruf, sondern aus eigenem Impuls.
- In der Kontemplation begegnen sich Mensch und Thema, sie freunden sich an.
- im Input werden Perspektiven geöffnet, man freut sich am Blick durch den kognitiven Feldstecher und die emotionale Lupe.
- in der Konsolidierung wird Neues verankert und die Welt erweitert.
Und ich als Lernbegleiter? Ich bin nicht Mittelpunkt, sondern Möglichmacher, nicht Schauspieler sondern Bühnenbauer. Ich gestalte Räume, halte aus, bin da, wenn ich gebraucht werde – und lasse los, wo immer ich es kann.
So ist die KIK-Struktur für mich nicht nur ein Strukturmodell, sondern eine Erfahrung, die trägt und viele glückliche Erfolge zeitigt – seit vielen Jahren, in vielen Begegnungen, mit vielen Menschen.
Und sie bleibt offen – wie das Leben selbst.
KIK-Beispiel aus dem Bereich der Mathematik:
Gelebtes Lernen mit der KIK-Struktur – Mathematik als persönliche Entdeckung
Kompetenz:
„Ich kann den Satz von Pythagoras beweisen und anwenden.“
Phase 1: Kontemplation – wenn ein Satz eine Tür öffnet
Ein Lernpartner sitzt oder liegt an seinem Platz im Lernatelier. Vor ihm liegt kein Arbeitsblatt, keine Lösung, keine Anweisung – nur ein Ziel, das er dem Kompetenzraster entnimmt:
„Ich kann den Satz von Pythagoras beweisen und anwenden.“
Noch ist es nur ein Satz.
Aber etwas in ihm beginnt zu arbeiten mit der Frage: Was hat das mit mir zu tun?
Er denkt an Spiele mit Konstruktionsrastern, an schräge Leitern, an Holzrahmen, die er einmal ausgemessen hat. Vielleicht taucht ein Bild auf – ein Dreieck, ein Geodreieck, das Wort „Hypotenuse“ aus der Erinnerung. Oder einfach nichts und es braucht den Blick in geeignete Unterlagen.
Er fragt sich:
- Warum stimmt das mit a² + b² = c² eigentlich?
- Wo kommt das her – und wer hat das entdeckt?
- Wozu könnte man so etwas heute brauchen?
- Was bedeutet es, etwas zu beweisen?
Er schreibt seine Fragen auf, eine nach der anderen – und hängt sie an die Fragewand für den Input, als Einladung an sich selbst, sich auf Entdeckungsreise zu begeben.
Was eben noch abstrakt war, beginnt Bedeutung zu bekommen. Es entsteht eine feine Verbindung – zwischen dem, was er schon wusste, und dem, was er noch nicht versteht.
Ein stiller, aber bedeutender Moment: Er hat an sein Vorwissen angedockt.
Phase 2: Input – Wenn etwas in Bewegung gerät
Hier entscheidet sich der Lernpartner: Er will mehr wissen.
Er geht gemäss Ausschreibung am Monitor zur Inputinsel, wo ein Fachbegleiter bereitsteht – nicht um zu dozieren, sondern um Türen zu öffnen, um zu faszinieren, indem er selber fasziniert ist. Gemeinsam schauen sie sich Quadrate auf einem Geobrett an. Dreiecke, die sich zu Flächen fügen. Linien, die Zusammenhänge sichtbar machen.
Oder er findet sich auf dem Marktplatz wieder, mit anderen Lernpartner:innen, die dieselbe Kompetenz erkunden – jede:r auf eigene Weise. Fragen werden getauscht, Ideen angestossen, Verbindungen geknüpft.
Drei Wege zeichnen sich ab:
- Der geometrische Beweis – ein altes chinesisches Puzzle, das Formen neu sortiert,
- der algebraische Weg – klare Gleichungen, saubere Herleitungen,
- der praktische Zugang – eine Leiter an der Wand, ein Weg über Felder, eine schräge Dachfläche.
Nicht alle Fragen werden sofort beantwortet. Einige sind noch unterwegs, andere klären sich ganz nebenbei. Was sich erledigt hat, wird von der Fragewand genommen. Für andere hilft vielleicht ein Blick in eine gut gepromptete KI-gestützte Recherche – doch immer mit dem kritischen Blick: Was ist tragfähig? Was ist nur Behauptung?
Ein Satz ist nun mehr als Sprache. Er ist zu einem Raum geworden, in dem man sich bewegen kann.
Phase 3: Konsolidierung – wenn Wissen Wurzeln schlägt
Jetzt beginnt die wichtige, aber oft vernachlässigte Arbeit des Verstehens.
Der Lernpartner versucht, den Beweis selbst zu rekonstruieren – zuerst mit Farben, Formen, Papierschnipseln, später in Worten.
Er übt – nicht, weil er muss, sondern weil er wissen will, ob es wirklich stimmt.
Er rechnet, zeichnet, denkt.
Vielleicht erklärt er es einem jüngeren Lernpartner oder einem Geschwister. Oder er programmiert eine digitale Simulation. Oder er schreibt eine Geschichte über einen Menschen, der den Pythagoras zum ersten Mal verstanden hat. Oder er komponiert einen Pythagoras-Rapp.
Es ist nicht mehr nur Mathematik. Es ist seine Mathematik.
In dieser Phase geschieht Festigung – aber auch Freude, Sicherheit, Stolz. Ohne sie würde das, was eben noch aufgeblüht ist, wieder zerfallen wie ein Sandbild im Wind.
So aber bleibt es. Verinnerlicht.
KIK – wenn aus einem Satz ein Teil von mir wird
Die Kompetenz „Ich kann den Satz von Pythagoras beweisen und anwenden“ soll durch die KIK-Struktur nicht nur erarbeitet werden – sie wird bedeutungsvoll, lebendig, nachhaltig verankert.
Was als abstrakte Zielvorgabe begann, ist zu einem persönlichen Lerneigentum geworden – getragen von Neugier, Begegnung, Erkenntnis.
Und vielleicht – ganz am Rand – ist auch ein neues Verhältnis zur Mathematik entstanden. Eines, das bleibt.
Ein Beispiel gelebten Lernens mit der KIK-Struktur – Geschichte als Spiegel der Gegenwart
Kompetenz:
„Ich kann die geschichtlichen Fakten erklären, die zum Ersten Weltkrieg führten.“
Phase 1: Kontemplation – wenn Geschichte beginnt, sich zu melden
Ich sitze, stehe oder liege im Lernatelier. Kein Lernbegleiter redet, kein Buch liegt offen – nur ich, mein Kopf, mein Herz, mein Denken.
Vor mir steht ein Satz aus dem Kompetenzraster «Geschichte»:
„Ich kann die geschichtlichen Fakten erklären, die zum Ersten Weltkrieg führten.“
Er klingt sachlich, nüchtern. Aber in mir beginnt etwas zu arbeiten.
Ich frage mich:
- Wie kann es sein, dass ein einziger Schuss Millionen Menschenleben kostet?
- Was bringt ganze Länder dazu, sich gegenseitig zu vernichten?
- Gab es wirklich keine andere Möglichkeit als Krieg?
Ich erinnere mich an Bilder aus einem Film: Männer im Schlamm, starre Blicke, Explosionen im Nebel.
Oder an das, was mein Urgrossvater geschrieben hat – von Uniformen, Hunger, Angst.
Ich beginne, Fragen zu notieren. Sie kommen fast von allein:
- War das Attentat in Sarajevo wirklich der Auslöser?
- Wie konnten so viele Nationen gleichzeitig in den Krieg „hineinschlittern“?
- Was hatte es mit diesen Bündnissen auf sich – war das wie bei Schulcliquen oder Gangallianzen?
- Hätten die Menschen damals den Krieg verhindern können, wenn sie sich besser verstanden hätten?
Ich hänge meine Fragen an die Fragewand.
Das Thema beginnt, mir nahe zu kommen. Es geht nicht mehr nur um Fakten – es geht um Entscheidungen, um Verantwortung, um Menschsein.
Phase 2: Input – Wenn Zusammenhänge entstehen
Ich will es wissen. Ich erkundige mich, wann an der Inputinsel ein Input zum Thema angeboten wird oder initiiere mit dem Geschichtslernbegleiter selber einen Input.
Der Fachbegleiter spricht von seiner Faszination – er gibt keine Antworten, sondern wartet mit einem Fächer an Möglichkeiten.
Ein Zeitstrahl, der wie ein Puzzle die Ereignisse sichtbar macht: 1870 – 1914.
Bündnisse, Rüstungswettläufe, Nationalismus, alte Feindschaften, neue Ängste.
Er zeigt uns Bilder, Karten, Zeitungsartikel. Und erzählt von Menschen – jungen Soldaten, zögernden Politikern, wütenden Massen.
Er schlägt drei Wege vor, wie ich mich weiter vertiefen könnte:
- Chronologisch – Jahr für Jahr, Entscheidung für Entscheidung.
- Systemisch – Was liegt hinter den Fassaden? Wie funktioniert Machtpolitik?
- Narrativ – Briefe, Tagebücher, Augenzeugen. Stimmen, nicht nur Daten.
Ich merke: Geschichte ist nicht Vergangenheit. Sie ist Erzählung, Deutung, Spiegel.
Am Ende gehe ich zur Fragewand zurück. Manche meiner Fragen sind geklärt. Andere nicht.
Für sie beginne ich eine KI-Recherche – aber nicht blind, sondern prüfend: Wer hat das geschrieben? Was fehlt? Was klingt überzeugend?
Jetzt spüre ich: Ich bin mittendrin. Geschichte ist kein Stoff. Geschichte ist Begegnung.
Phase 3: Konsolidierung – Wenn Wissen sich in mir ordnet
Ich nehme mir Zeit. Kein Test, kein Druck – nur ich und mein Verstehen.
Ich beginne, ein visuelles Ursachen-Diagramm zu zeichnen: Linien, Farben, Begriffe – das „Pulverfass Europa“.
Ich formuliere laut, was ich verstanden habe. Erst stockend, dann flüssiger.
Ich diskutiere mit anderen: War der Krieg vermeidbar? – Wer trägt Verantwortung? – Was hätte ich getan?
Ich schreibe eine fiktive Rede aus der Sicht eines Politikers im Juli 1914 – mit all den inneren Widersprüchen, Ängsten, Zielen.
Ich entdecke: Verstehen heisst auch, sich einzufühlen.
Ich beginne, meine Gedanken zu bündeln. Aus vielen Fäden wird ein Netz.
Ich kann jetzt nicht nur die Fakten erklären.
Ich kann Verbindungen herstellen, beurteilen, erzählen.
Und ich weiss: Dieses Wissen bleibt. Es ist in mir angekommen.
Und dann wird Geschichte zur eigenen
Die Kompetenz „Ich kann die geschichtlichen Fakten erklären, die zum Ersten Weltkrieg führten“ ist mehr als ein Prüfpunkt geworden.
Durch die KIK-Struktur wurde sie zu einem Lernweg – persönlich, forschend, nachwirkend.
Ich habe nicht nur gelernt, was war, sondern auch gespürt, was daraus werden kann.
Denn Geschichte ist nicht vorbei. Sie lebt – in Fragen, in Begegnungen, in mir.