Autonomes Lernen und selbstorganisiertes Lernen – zwei Zugänge, zwei Haltungen

Peter Fratton

Einleitung

In der aktuellen Bildungsdiskussion begegnen wir häufig Begriffen wie selbstorganisiertes Lernen oder selbstreguliertes Lernen. Sie klingen modern, lassen Freiräume vermuten – und doch unterscheiden sie sich grundlegend von einem Begriff, der tiefer greift: dem autonomen Lernen. Wer von Autonomie spricht, meint nicht nur eine Methode, sondern eine Haltung. Dieser Text beleuchtet die Unterschiede beider Zugänge und legt dar, warum das Verständnis des Lernens als Existenzform des Menschen eine Neuausrichtung erforderlich macht.

Autonomes Lernen als Ausdruck des Menschseins

Der Begriff autonom leitet sich ab aus dem Griechischen: autos (selbst) und nomos (Gesetz). Der autonome Mensch ist sich selbst Gesetz – im Denken, im Handeln, im Lernen. Übertragen auf das Lernen bedeutet das: Der Antrieb entspringt dem Inneren, aus eigener Einsicht, aus Neugier, aus dem Wunsch nach Verstehen. Der Lernende schöpft seine Lernidee aus dem eigenen Nachdenken, aus der selbst empfundenen Notwendigkeit, sich mit etwas auseinanderzusetzen.

Autonomes Lernen ist also kein methodischer Trick, sondern Ausdruck einer Haltung, eines Weltbezugs. Es ist radikal subjektiv und zugleich dialogisch offen.

Beispiel für Autonomes Lernen:
Ein Jugendlicher beobachtet auf dem Heimweg vom See die Wasservögel und beginnt sich zu fragen, warum Enten nicht frieren, obwohl sie im Winter auf dem Eis stehen. Diese Frage lässt ihn nicht mehr los. Er beginnt zu recherchieren, spricht mit seiner Biologielehrerin, entwickelt erste Hypothesen und plant eine eigene kleine Untersuchung. Niemand hat ihm diesen Impuls gegeben – die Frage stammt aus ihm selbst, getragen von echtem Interesse.

Beispiel 2 – Autonomes Lernen:
Ein Kind interessiert sich für Musik und baut aus Neugier eigene Instrumente. Es vergleicht Klänge, fragt sich, warum manche Töne „schön“ klingen, andere nicht. Es bittet um ein Mikrofon und beginnt, mit Tonaufnahmen zu experimentieren – nicht weil es im Lehrplan steht, sondern weil es aus dem Moment heraus entsteht.

Der autonome Lernende sagt nicht: „Ich lerne, weil ich muss“, sondern: „Ich lerne, weil ich will – oder weil ich einsehe, dass es sinnvoll ist.“ Wer als LernbegleiterIn die Umgebung so gestalten kann, dass aus dem «ich muss» ein «ich will» entsteht, muss weder Druck ausüben, noch sich mit disziplinarischen Problemen oder Mobbing auseinandersetzen.

Bioagogik statt Pädagogik

Ich bezeichne meine Form des Begleitens als Bioagogik. Pädagogik heisst wörtlich übersetzt: Knabenführung, Bioagogik bedeutet Lebensführung. 

«Peter Fratton hat mit seiner Bioagogik einen wegweisenden Bezugsrahmen für das autonome Lernen geschaffen. Er geht von zwei grundlegenden Axiomen aus:
1. Lernen ist eine Existenzform des Menschen.
2. In jeder Umgebung geschieht das, was in dieser Umgebung angemessen ist.

Daraus leitet sich eine radikale Neupositionierung des Lernbegriffs ab: Lernen ist nicht planbar oder regulierbar im herkömmlichen Sinn, sondern Ausdruck des lebendigen Weltbezugs eines Menschen – individuell, situativ, kontextsensitiv. Die Rolle der Lernbegleiter*innen besteht nicht darin, Inhalte zu vermitteln, sondern Umgebungen so zu gestalten, dass Lernen geschehen kann – aus sich selbst heraus.» 
(Handbuch der Reformpädagogik, Band 13, Ergon-Verlag 2018)

In der bioagogischen Perspektive wird der Mensch nicht als belehrbares Objekt, sondern als lernendes Subjekt verstanden, dessen Selbstwirksamkeit und Resonanzfähigkeit zentral sind. Autonomie ist dabei keine Zielvorgabe, sondern anthropologische Voraussetzung.

Selbstorganisiertes Lernen – eine Methode der Stoffbewältigung

Demgegenüber steht das selbstorganisierte Lernen. Hierbei handelt es sich um eine methodisch strukturierte Form des Unterrichts, bei der die Lernenden innerhalb eines vorgegebenen Rahmens (z. B. Lernplan, Materialien, Zeitfenster) ihre Lernprozesse eigenständig planen und durchführen. Oft werden dafür Wochenpläne, Lernjournale oder digitale Tools eingesetzt. Der Begriff betont die Fähigkeit zur Planung, Durchführung und Kontrolle des eigenen Lernverhaltens – innerhalb einer definierten Zielstruktur.

Beispiel 3 – Selbstorganisiertes Lernen:
Eine Schülerin arbeitet mit einem Wochenplan. Sie wählt selbst aus, wann sie Mathe, Deutsch oder Englisch macht, in welcher Reihenfolge sie Aufgaben löst, und sie dokumentiert ihre Fortschritte. Das Ziel (z. B. „Arbeite Seite 37–41 durch“) ist vorgegeben, ebenso die Materialien in Form von Lernjobs oder Materialpaketen. Sie organisiert den Weg dorthin – nicht aber den Lerngegenstand selbst.

Man spricht auch von selbstreguliertem Lernen. Dieser Begriff jedoch ist besonders kritisch zu betrachten: Er suggeriert, dass Lernen etwas sei, das reguliert werden müsse – wie man eine Heizung reguliert. Doch ein Mensch ist keine triviale Maschine. Lernen ist keine mechanische Tätigkeit, sondern ein lebendiger Prozess, durchdrungen von Sinn, Emotion, Kontext und Beziehung.

Zwei Begriffe, zwei Menschenbilder

Hier liegt der zentrale Unterschied:
– Das selbstorganisierte oder selbstregulierte Lernen geht vom Menschen als steuerbares Objekt aus – als Wesen, dessen Lernen effizient organisiert und optimiert werden kann.
– Das autonome Lernen dagegen sieht im Menschen ein freies, denkendes, sich selbst entfaltendes Subjekt. Lernen ist kein Mittel zum Zweck, sondern Ausdruck von Weltbezug, von Staunen, von Eigenständigkeit.

Beispiel 4 – Zwei Kinder, zwei Wege:
Beide Kinder interessieren sich für das Thema „Wetter“.
– Das erste Kind bekommt im Unterricht den Auftrag, ein Wettertagebuch zu führen, tägliche Daten zu erfassen und einen Text zu schreiben. Es organisiert seine Arbeit selbstständig – das ist selbstorganisiertes Lernen.
– Das zweite Kind hört vom Begriff „Klimawandel“, denkt über die Hitzewellen nach und fragt sich, was das mit seinem Alltag zu tun hat. Es beginnt aus eigenem Antrieb zu recherchieren, verfolgt Satellitendaten, interessiert sich für CO₂-Messgeräte und kommt auf die Idee, eine Wetterstation zu bauen. Das ist autonomes Lernen.

Schlussfolgerung

In der Bildungswelt ist es wichtig, Begriffe nicht nur methodisch, sondern auch anthropologisch zu betrachten. Das selbstorganisierte Lernen hat seinen Platz – insbesondere zur Strukturierung innerhalb eines Bildungssystems. Doch es bleibt eine Methode (methodos = Weg). 

Das autonome Lernen hingegen ist ein Bildungsprinzip – ein Menschenbild in Haltung und Handlung. Es setzt Vertrauen voraus, Zeit, Beziehung und eine gestaltete Umgebung, die Eigenverantwortung nicht nur zulässt, sondern hervorbringt.

Die Bioagogik liefert hierfür eine grundlegende Orientierung: Sie begreift Lernen nicht als technisches Problem, sondern als schöpferische Lebensform. Wer auf autonome Lernprozesse setzt, fördert nicht einfach Kompetenzen – sondern Menschen.

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