Häufig werde ich darauf angesprochen, dass das Konzept des autonomen Lernens in der gestalteten Umgebung (Bioagogik) dem Dalton-Plan von Helen Parkhurst ähnlich sei. Diese Ähnlichkeit stimmt und doch gibt es Unterschiede, die ich Euch gerne darlege:
Der Dalton-Plan ist ein reformpädagogisches Unterrichtsmodell, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der US-amerikanischen Pädagogin Helen Parkhurst (1886–1973) entwickelt wurde. Seinen Namen erhielt er, weil Parkhurst das Konzept erstmals 1919 in der Stadt Dalton (Massachusetts) praktisch erprobte.
Der Dalton-Plan will den schulischen Unterricht stärker an den individuellen Bedürfnissen, Interessen und dem Lerntempo der Schülerinnen ausrichten. Er verbindet Freiheit in der Arbeit mit Verantwortung für das eigene Lernen und Kooperation in der Gemeinschaft.
Zentrale Prinzipien
- Freiheit – Die Lernenden entscheiden weitgehend selbst, wann, in welcher Reihenfolge und in welchem Tempo sie an ihren Aufgaben arbeiten.
- Verantwortung – Jede übernimmt Verantwortung für die Erfüllung der Aufgaben („Assignments“), die für einen bestimmten Zeitraum (meist monatlich) vorgegeben werden.
- Kooperation – Lernen findet nicht isoliert statt, sondern in einer Gemeinschaft. Die Schülerinnen unterstützen sich gegenseitig, tauschen sich aus und organisieren Teile des Lernprozesses selbst.
Organisation
- Statt fester Klassenstunden gibt es Arbeitspläne für einzelne Fächer.
- Schülerinnen arbeiten in Fachräumen (Laboratories), die jeweils von einer Lehrperson betreut werden.
- Lehrpersonen haben die Rolle von Beraterinnen oder Mentorinnen, nicht primär von Vortragenden.
- Es gibt regelmässig Reflexionen und Rückmeldungen zum Arbeitsfortschritt.
Ziele
- Förderung von Selbstständigkeit und Eigenverantwortung.
- Entwicklung von Teamfähigkeit und sozialer Kompetenz.
- Individuelle Förderung statt einheitlicher Gleichschritt-Unterricht.
- Vorbereitung auf lebenslanges Lernen.
Verbreitung
- Der Dalton-Plan hat besonders in den Niederlanden große Verbreitung gefunden. Dort existieren viele sogenannte „Daltonschulen“.
- Auch in anderen Ländern (England, Japan, Deutschland) gibt es Dalton-orientierte Schulen, allerdings seltener.
Kurz gesagt: Der Dalton-Plan ist eine Alternative zum Frontalunterricht, die auf Selbstorganisation, Freiheit und Gemeinschaft setzt – ein früher Vorläufer vieler heutiger Konzepte von selbstgesteuertem Lernen.
Die Bioagogik
Die Bioagogik ist ein von Peter Fratton et al entwickeltes Konzept, das Lernen nicht mehr als pädagogischen Vorgang, sondern anthropologisch versteht, als Existenzform des Menschen. Sie geht davon aus: Der Mensch lernt immer, in jeder Umgebung, ob gewollt oder nicht. Aufgabe der LernbegleiterInnen ist es, Rahmen und Umgebungen so zu gestalten, dass Lernen in seiner Eigenlogik (autonom) gelingen kann, frei von Belehrung, Motivierung, Erziehung und Beibringen.
Zentrale Prinzipien: Zwei Axiome und vier Postulate
- Axiom 1 – Lernen ist eine Existenzform des Menschen.
- Axiom 2 – In jeder Umgebung geschieht das, was in dieser Umgebung angemessen ist.
- Vier Postulate als Grundlage der GEMEINSAMEN Haltung:
- Respektvoller Umgang
- Autonomes Lernen (im Gegensatz zum selbstorganisierten Lernen)
- Gestaltete Umgebung
- „Ins Gelingen verliebt sein“
Organisation
- Es gibt keine Unterrichtsformen im klassischen Sinn.
- Stattdessen: gestaltete Umgebungen mit Materialien, Menschen, Strukturen, Räumen, die Lernen in einer entspannten Atmosphäre ermöglicht.
- LernbegleiterInnen schaffen diese Umgebungen und nehmen als Primus inter pares der Lernfamilie selbst aktiv daran teil.
- Freiheit bedeutet nicht Beliebigkeit, sondern Verantwortung für das eigene Lernen in einer klar erkennbaren Ordnung: Grundsätze, Regeln und Ordnungsprinzipien
Ziele
- Lernen ermöglichen, ohne es vorzuschreiben.
- Selbstwirksamkeit, Verantwortung und Sinnorientierung fördern.
- Menschen als lernende Wesen in Gemeinschaften ernst nehmen.
- Pädagogik durch ein neues Paradigma ersetzen.
Verbreitung
- Entstanden in der Praxis von Schulen, die zu „Häusern des Lernens“ wurden (z. B. Alemannenschule Wutöschingen, Talenticum Romanshorn).
- Theoretisch fundiert durch die Bioagogik als anthropologische Disziplin.
- Verbreitet sich zunehmend in Bildungsinitiativen, die Autonomie aller Lernenden ins Zentrum stellen.
Die Bioagogik ist kein Unterrichtsmodell, sondern ein Paradigmenwechsel. Sie beschreibt das Lernen als grundlegende Form menschlicher Existenz und will Bedingungen schaffen, in denen dieses Lernen aufblühen kann.
Was ist der Unterschied zwischen Dalton-Plan und Bioagogik
Der Dalton-Plan und die Bioagogik haben Überschneidungen – beide betonen Eigenverantwortung, Freiheit und Lernen in gestalteten Umgebungen, aber sie unterscheiden sich in Philosophie, Tiefe und Zielsetzung.
1. Entstehung und Grundhaltung
- Dalton-Plan (Helen Parkhurst, ca. 1920)
Reformpädagogisches Unterrichtsmodell, entwickelt im Kontext von Schule. Ziel: den starren Frontalunterricht aufbrechen, Schülerinnen mehr Eigenständigkeit geben, Lehrerinnen zu Beraterinnen machen. - Bioagogik (Peter Fratton, 21. Jh.)
Anthropologische Disziplin, die Lernen als Existenzform des Menschen versteht. Sie geht nicht von Schule als Institution aus, sondern von Lernen als universellem Prinzip des Menschseins. Pädagogik (wörtl. Knabenführung) wird nicht ergänzt, sondern durch die Bioagogik (wörtl. Lebensführung) abgelöst.
2. Grundprinzipien
- Dalton-Plan
- Drei Kernprinzipien: Freiheit – Verantwortung – Kooperation.
- Lernen ist in Schulstrukturen eingebettet (Fächer, Räume, Monatsaufträge).
- Stellt eine Methodik des Unterrichtens dar.
- Bioagogik
- Zwei Axiome:
- Lernen ist eine Existenzform des Menschen.
- In jeder Umgebung geschieht das, was in dieser Umgebung angemessen ist.
- Vier Postulate: Respektvoller Umgang, autonomes Lernen, gestaltete Umgebung, ins Gelingen verliebt sein.
- Geht über Schule hinaus: Lernen geschieht überall und kann nicht gelehrt werden – nur begleitet.
- Zwei Axiome:
3. Rolle der Lehrperson
- Dalton-Plan: Lehrerin als Mentor/Betreuer, strukturiert Aufgaben und begleitet Lernprozesse.
- Bioagogik: Lernbegleiterin als fraktaler Teil der Umgebung – keine Belehrung, keine Instruktion, sondern Ermöglichung. Rolle ist nicht methodisch, sondern ontologisch: „Ich begleite dich, weil Lernen deine Seinsform ist.“
4. Lernumgebung
- Dalton-Plan: Fachräume („Laboratories“), Monatsaufträge, Planarbeit, eine pädagogisch konstruierte Struktur innerhalb der Schule.
- Bioagogik: Gestaltete Umgebung bedeutet nicht nur Räume und Aufgaben, sondern alles, was Teil der Lebenswelt ist. Die Umgebung ist offen, emergent, fraktal. Strukturierte Materialien für zielorientiertes Lernen, halbstrukturierte Materialien für entdeckendes Lernen.
5. Zielsetzung
- Dalton-Plan: Verbesserung des schulischen Lernens durch mehr Selbstständigkeit und Kooperation.
- Bioagogik: Neues Paradigma: Ablösung der Pädagogik, Anerkennung des Lernens als Lebensprinzip. Ziel ist nicht „Unterricht besser machen“, sondern Lernen in seiner Eigenlogik ermöglichen.
6. Gegenüberstellung:
| Aspekt | Dalton-Plan | Bioagogik |
| Ursprung | Reformpädagogik (1920, USA) | Anthropologische Disziplin (21. Jh., Schweiz/Deutschland) |
| Grundidee | Unterricht reformieren | Lernen ist eine Existenzform des Menschen |
| Prinzipien | Freiheit – Verantwortung – Kooperation | Axiome und Postulate (Respekt, Autonomie, gestaltete Umgebung, Gelingen), ohne Unterricht und (Jahrgangs)klassen |
| Rolle der Lehrperson | Mentor, Aufgabensteller | Begleiter, Teil der Umgebung, ohne Belehrung |
| Umgebung | Fachräume, Arbeitspläne | Gesamte Lebenswelt, emergent und fraktal |
| Ziel | Selbstständigkeit im schulischen Lernen | Paradigmenwechsel: Pädagogik ersetzen durch Bioagogik |
Der Dalton-Plan ist ein pädagogisches Konzept für Schulen.
Die Bioagogik ist ein neues Verständnis von Lernen, das über Schule hinausgeht und Pädagogik als Disziplin erweitert oder ablöst.