«Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorneherein ausgeschlossen erscheint.» Einstein
Ich versuche, die Frage aus bioagogischer* Sicht zu beantworten, indem ich die notwendige Haltung und ihre Grundlagen auf diese Problematik hin formuliere.
1. Die Axiome als Grundlage von Haltung und Handlung
- Lernen ist eine Existenzform des Menschen.
Kinder und Jugendliche müssen nicht „zum Lernen gebracht“ werden, sondern sie bringen von sich aus den Antrieb mit. Konkurrenz und Unterdrückung (Du Streber) entstehen weniger, wenn alle spüren: Ich darf lernen, wie ich bin. Lernen an sich stellt jedoch noch keinen Wert dar, es braucht immer einen Bezugspunkt. Diese können zu unterschiedlichen Lebensqualitäten führen. Je mehr die Bezugspunkte Sinnhaftigkeit für Lebensprozesse beinhalten, umso weniger Gewalt entsteht. Über Noten und Prüfungen verschafft die Beibringindustrie Bezugspunkte, die Lebensprozesse plastifizieren, ihre Lebendigkeit invalidisiert und die Sinnhaftigkeit zur Scheinwesentlichkeit (Noten etc) reduziert. Ja, es gibt durchaus auch eine intellektuelle Umweltverschmutzung gegen die sich Kinder und Jugendliche wehren. - In jeder Umgebung geschieht das, was dieser Umgebung angemessen ist.
Eine Umgebung, die auf Respekt, Autonomie und gelingendes Handeln ausgerichtet ist, „belohnt“ Kooperation und sieht unangemessenes Verhalten als Dysfunktionalität im System. Anstatt zu bestrafen, werden Normbrüche geheilt und die Symptome gesucht und beseitigt, die Unangemessenheit evozieren bis man merkt: Es passt einfach nicht. Konflikte – die Überall dazu gehören – haben kein Potenzial in Gewalt auszuarten.
2. Die vier Postulate als unveränderbare Regeln
- Respektvoller Umgang: Gewalt und Mobbing sind Konfliktverstösse die entstehen, wenn Konflikte nicht rechtzeitig ihren Platz bekommen. Respektlosigkeit kann einen Grund haben, der unter vier Augen (oder drei, manchmal muss man eines zudrücken!) gefunden und besprochen werden muss
- Autonomes Lernen: niemand muss Macht über andere ausüben, um sich Raum zu schaffen. Jeder lernt aus sich heraus. (Zitat eines Lernpartners: Hier kann ich auch lernen wollen, was ich muss, wenn es mir wichtig ist). Beibringen ist eine subtile Form von Gewalt. Lange wurde uns beigebracht, dass Beibringen, Erklären und Erziehen das einzige realistische Lernmodell sei. Auch wenn dieses Modell bewiesen hat, dass es funktioniert, so wie es auch funktioniert, Tieren Dinge beizubringen, die sie ohne Beibringung nie tun würden, gibt es daneben Lernprodukte, die erst entstehen können, wenn die Umgebung passend gestaltet ist.
- Gestaltete Umgebung: Räume, Regeln, Ordnungsprinzipien, Materialien und Strukturen sind so eingerichtet, dass Zusammenarbeit naheliegt. Es gibt keine Regeln, die nicht von den LernbegleiterInnen UND den LernpartnerInnen formuliert und akzeptiert wurden.
- Ins Gelingen verliebt sein: der Fokus liegt auf Erfolgserlebnissen – nicht auf gegenseitiger Abwertung – und auf dem Mut, Dinge zu wagen. Nelson Mandela sagt: Wir verlieren nie, entweder wir gewinnen oder wir lernen. Und über unsere Beziehungen geben wir den (Lern)Inhalten Wert.
Wenn diese Postulate konsequent gelebt werden, sind Gewalt oder Mobbing „Fremdkörper“ im System, in dem sie keinen Platz finden. Die Möglichkeit des vertrauensvollen Gesprächs mit dem Lernbegleiter unter vier Augen und das Bewusstsein, dass Konflikte wichtig sind und gelöst werden können, ist der Ausgangspunkt, der dazu führt, dass Gewalt und Mobbing keine Chancen haben.
3. Das fraktale Führungsprinzip anstelle von Machthierarchie
In der Bioagogik entsteht Führung nicht durch Position oder Macht, sondern durch Kongruenz (Haltung, Präsenz, Konsequenz).
- Erwachsene wie Jugendliche führen, indem sie die Postulate vorleben.
- Dadurch wird Mobbing sofort als „nicht kongruent“ sichtbar und verliert seine soziale Machtbasis.
4. Emergenz als Geschenk einer gemeinsamen Haltung
Wenn die Postulate stetig und von allen Beteiligten eingehalten werden, entstehen Phänomene, die aus den Postulaten nur indirekt ableitbar sind, sie emergieren zu
- Vertrauen
- Zugehörigkeit
- Fürsorge und Verantwortung
- gegenseitige Unterstützung
- Gelassenheit und Humor
- Emotionale Nähe
Genau diese Emergenzen verhindern systemisch Gewalt und Mobbing. Nicht einfach, weil es „verboten“ ist, sondern weil es gar nicht auf Resonanz** stösst.
5. Reaktionsformen Schule versus Haus des Lernens
In einem Haus des Lernens nach bioagogischen Prinzipien entsteht Nichtgewalt als Emergenz aus den Postulaten, es braucht weder Antigewalttraining noch Neue Autorität oder Zusatzkräfte, weil Respekt, Autonomie, Gestaltung und Gelingen die sozialen Kräfte bündeln. Mobbing und Gewalt können sich nicht etablieren, weil ihnen die Resonanzbasis fehlt.
| Aspekt | Schule (klassisch) | Haus des Lernens mit Bioagogik |
| Grundannahme | Gewalt entsteht durch Regelbruch oder Fehlverhalten. Der Täter ist zu eruieren und zu bestrafen. | Gewalt erstickt, wenn die Umgebung angemessen gestaltet ist. (Menschlich, architektonisch, organisatorisch und strukturell) |
| Vorgehen | Prävention durch Programme, Kontrolle, lehrerbestimmte Regeln und Sanktionen. | Konsequente Umsetzung der vier Postulate schafft einen Raum, in dem Gewalt nicht resonanzfähig ist. |
| Reaktion | Strafen, Gespräche, Ausschlüsse, pädagogische Massnahmen, schärfere Regeln, Timeoutprogramme | Kaum Reaktion nötig, da Gewalt nicht entsteht – respektloses Verhalten „passt nicht“ in die Umgebung. |
| Sozialer Fokus | Vergleich, Konkurrenz, 7G-Unterricht, Selektion → Risiko für Mobbing steigt. | Vielfalt, Kooperation, gemeinsame Haltung → Resonanzraum für Vertrauen festigt sich. |
| Führung | Hierarchisch: Lehrperson muss kontrollieren, sanktionieren, lenken. Kinder werden bei grösseren Problemen weitergegeben zum Spezialisten | Fraktal: Führen durch Kongruenz und GEMEINSAME Haltung von Erwachsenen und Kindern. Kinder werden grundsätzlich nicht weitergegeben, sie bleiben bei ihrem vertrauten Begleiter |
| Ergebnis | Gewalt wird eingedämmt, taucht aber immer wieder auf. | Gewaltfreiheit entsteht nachhaltig. |
Kurz gesagt:
Die Schule begegnet oder bekämpft Gewalt mit lehrerverlangten Regeln, Strafen und Programmen. Sie bezweifelt, dass Gewalt entsteht, wenn Kinder nicht mehr müssen können.
Die Bioagogik verhindert Gewalt durch eine Umgebung, in der Respekt, Autonomie, Gestaltung und Gelingen das soziale Klima bestimmen und so die Beteiligten zu Agenten des Wandels befähigen.
*Die Bioagogik ist eine anthropologische – keine pädagogische – Disziplin, die Lernen als Existenzform des Menschen versteht. Sie geht davon aus, dass in jeder Umgebung das geschieht, was für diese Umgebung angemessen ist – und gestaltet deshalb Räume, Beziehungen und Strukturen so, dass Lernen gut gelingen kann. Grundlage sind vier unveränderbare Postulate: respektvoller Umgang, autonomes Lernen, gestaltete Umgebung und die Haltung, ins Gelingen verliebt zu sein. Die Bioagogik hat nichts dogmatisches, ideologisches oder wissenschaftliches an sich, also nichts Forderndes. Sie geht nur davon aus, dass ohne Praxis und Einbezug aller, nichts entschieden werden kann. Durch ihren Willen, jede Praxis zu reflektieren, bleibt sie ganz unfanatisch. Wer mit ihr nicht arbeiten und handeln kann, geht einfach an ihr vorüber.
**Resonanz beschreibt, ob ein Verhalten, eine Haltung oder ein Ereignis in einer Umgebung auf Antwort stösst oder nicht. Alles, was mit den vier Postulaten übereinstimmt, erzeugt Resonanz und wird von der Gemeinschaft aufgenommen, verstärkt und weitergetragen.