Bioagogik und Systemtheorie

Marc Hauser

Einleitung

Bioagogik ist ein noch junges Konzept welches von Peter Fratton und Mitstreitern seit 1980 in den Häusern des Lernens entwickelt wurde. Es versteht Lernen nicht mehr als pädagogischen Vorgang, sondern als anthropologische Eigenschaft des Menschen. Lernen gilt in der Bioagogik als Existenzform des Menschen; der Mensch lernt immer und in jeder Umgebung, ob bewusst oder unbewusst. Lehrende werden dadurch zu „Lernbegleiter*innen“, die Rahmenbedingungen gestalten, in denen sich Lernprozesse aus eigener Motivation entfalten können. Fratton ist keine Theoretiker, sondern hat die Bioagogik in seinen Häusern des Lernens umgesetzt. Zit: Die Praxis bestimmt die Theorie.

Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann beschreibt die Welt als Netz aus autopoietischen Systemen, die sich von ihrer Umwelt unterscheiden. Biologische, psychische und soziale Systeme operieren nach eigenen Regeln und produzieren ihre Elemente selbst. Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation; psychische Systeme aus Gedanken. 

Beide Ansätze rücken das menschliche Lernen aus der Perspektive des Trivial‑Maschine‑Paradigmas heraus: Lernen und Sozialisation lassen sich nicht linear steuern. Diese Dokumentation erläutert zunächst die Grundgedanken der Bioagogik und der Systemtheorie und zeigt anschliessend, wie sich beide Konzepte gegenseitig ergänzen.

Grundzüge der Bioagogik

Anthropologische Perspektive: Die Bioagogik geht davon aus, dass Lernen eine Existenzform des Menschen ist. Es ist kein Zustand, der erst durch Unterricht oder pädagogische Massnahmen entsteht, sondern ein kontinuierlicher, lebensimmanenter Prozess. Menschen können nicht nicht lernen; sie nehmen fortwährend Informationen aus ihrer Umwelt auf und verarbeiten sie. Jeder Lernprozess durchläuft drei Stufen, die bei jedem Menschen unterschiedlich lang sein können: Aufnehmen, Verarbeiten, Ausgeben. Der Lernprozess ist dabei stets subjektiv und kontextabhängig. Klassenstrukturen, Stundenplantaktung und Unterricht unterbrechen durch ihre Struktur diesen Dreischritt des Lernens. Fratton plädiert daher für deren Abschaffung und einem Ersatz in Form von Lernhäusern mit Inputtheken, Lernateliers, Marktplätzen, Coachigräumen, Laboratorien und Entspannungszonen. Jahrgangsübergreifende Gruppen bilden eine Lernfamilie.

Axiome und Postulate: Peter Fratton formuliert zwei grundlegende Axiome für die Bioagogik: 

  1. Lernen ist eine Existenzform des Menschen.
  2. In jeder Umgebung geschieht das, was in dieser Umgebung angemessen ist.

Aus diesen Axiomen leitet er vier Postulate ab, die die Haltung der Lernbegleiter*innen bestimmen: 

  • Respektvoller Umgang: Lernende werden als eigenständige, lernfähige Menschen ernst genommen.
  • Autonomes Lernen: Lernen findet aus eigenem Antrieb statt; Lernende steuern Inhalt und Tempo. Es benötigt weder Lehrpläne noch Lehrmittel.
  • Gestaltete Umgebung: Die Lernumgebung wird so gestaltet, dass sie Lernprozesse stimuliert und Räume für Entdeckung, Forschung, Begegnung und Ruhe bietet 
  • Ins Gelingen verliebt sein: Lernbegleitung orientiert sich am Gelingen und nicht am Defizit; Fehler werden als Chancen betrachtet und Misslingen als Lernanlass und nicht als Scheitern

Organisation und Rolle der Lernbegleitenden: Bioagogische Lernorte sind keine klassischen Schulklassen. Es gibt keine fixen Unterrichtsformen; stattdessen entstehen gestaltete Umgebungen aus Materialien, Menschen, Strukturen und Räumen, die Lernen in entspannter Atmosphäre ermöglichen. Lernbegleiter*innen wirken als Teil der Umgebung (primus inter pares) und schaffen die Bedingungen, in denen Lernen aus der Eigenlogik der Lernenden gelingen kann.  Freiheit bedeutet in diesem Rahmen nicht Beliebigkeit. Lernende übernehmen Verantwortung für ihr Tun in einer klar erkennbaren Ordnung aus Grundsätzen (Axiomen), Regeln (Postulate) und Ordnungsprinzipien (veränderbare Regeln). Der Fokus liegt auf der Entwicklung von Selbstwirksamkeit, Sinnorientierung, Leistungsfreude und Verantwortungsbewusstsein. 

Paradigmenwechsel gegenüber der Pädagogik: Die Bioagogik unterscheidet sich deutlich von klassischen reformpädagogischen Konzepten wie z.B. dem Dalton‑Plan. Während der Dalton‑Plan ein Unterrichtsmodell ist, das Freiheit, Verantwortung und Kooperation innerhalb schulischer Strukturen betont, will die Bioagogik Pädagogik als Disziplin ablösen. Sie betrachtet Lernen als universelles Lebensprinzip und strebt an, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen dieses Lernen aufblühen kann. 

Grundzüge der Systemtheorie (nach Luhmann)

Systeme und Umwelt: Die Luhmannsche Systemtheorie betrachtet die Welt als Ensemble autopoietischer Systeme, die sich klar von ihrer Umwelt unterscheiden. Ein System entsteht, wenn sich Operationen (Ereignisse) an vorangegangene, gleichartige Operationen anschliessen und dadurch eine geschlossene Operationsweise bilden. Aus dieser Operationenfolge geht das System hervor, und gleichzeitig entsteht seine systemspezifische Umwelt. 

Diese Denkweise rückt den Unterschied zwischen System und Umwelt in den Mittelpunkt. Systeme sind operativ geschlossen (sie produzieren ihre Elemente selbst), aber strukturell offen für Umwelteinflüsse. Der Erkenntnisprozess ist konstruktivistisch: Wirklichkeit entsteht in der Beobachtung; es gibt keinen transzendentalen Standpunkt ausserhalb der Systeme.

Autopoiesis und Differenzierung: Luhmann übernimmt den Begriff der Autopoiesis (Selbstproduktion) aus der Biologie und überträgt ihn auf psychische und soziale Systeme. Soziale Systeme bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikationen. Psychische Systeme bestehen aus Gedanken. Diese Operationen können ihre jeweiligen Systeme nicht verlassen.  Die Gesellschaft differenziert sich nach Luhmann in verschiedene Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft oder Bildung. Jedes Funktionssystem operiert mit einem eigenen binären Code (z. B. Wirtschaft: zahlen / nicht zahlen; Politik: Regierung / Opposition). Kommunikation wird nur dann anschlussfähig, wenn sie zum jeweiligen Code passt. 

Kommunikation als Operation: In der Systemtheorie ist Kommunikation die grundlegende Operation sozialer Systeme. Sie besteht aus einer Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen. Kommunikation wird nicht auf individuelle Bewusstseine zurückgeführt, sondern ist eine eigenständige, autopoietische Operation des Systems. Diese Sichtweise verschiebt die Aufmerksamkeit von Personen auf Kommunikationsprozesse und deren Anschlussfähigkeit.

Konstruktivistische Erkenntnistheorie Luhmanns Theorie basiert auf einem radikalen Konstruktivismus: Jede Beobachtung ist an die Bedingungen des Beobachters gebunden. Es gibt keine objektive, von der Beobachtung unabhängige Wirklichkeit. Deshalb erklärt die Systemtheorie nicht „die Realität“, sondern beschreibt, wie Systeme ihre eigene Realität konstruieren. Für die Schule hat das eine enorme Bedeutung: Das Funktionssystem Schule konstruiert die Realität: genügend/ungenügend und passend/unpassend anhand zufällig gewählter «Fächer». Wer zu ungenügend im System ist, muss systemtauglich gemacht werden oder das System verlassen, weil er es stört. Das ist die konstruierte Realität des Systems. Man könnte auch das System lebendig/tot konstruieren in dem eine sehr erweiterte Systemtauglichkeit Platz hätte und somit alle Menschen einen Platz im System bekämen.

Verbindung zwischen Bioagogik und Systemtheorie

Lernen als autopoietischer Prozess: Die Bioagogik betont, dass Lernen in jeder Umgebung geschieht und der Mensch immer lernt.  Diese Sicht lässt sich mit dem systemtheoretischen Verständnis von Autopoiesis vergleichen: Ein biologisches oder psychisches System produziert seine Elemente (z. B. Gedanken) selbst und kann nicht direkt von aussen „gesteuert“ werden. Lernprozesse entstehen als interne Reaktionen des psychischen Systems auf Umweltreize, aber nicht als externe Einwirkung im Sinne der „Beschulung“.

System/Umwelt-Differenz und gestaltete Umgebung: Bioagogik formuliert als zweites Axiom, dass in jeder Umgebung das geschieht, was für diese Umgebung angemessen ist. Luhmanns Systemtheorie beschreibt, wie ein System seine Umwelt konstruiert; Umwelteinflüsse wirken nur über Strukturkopplungen und werden vom System gewissermassen eigensinnig verarbeitet. Die „gestaltete Umgebung“ der Bioagogik entspricht dem systemtheoretischen Verständnis, dass die Umwelt Rahmenbedingungen setzt, aber keine lineare Steuerung ermöglicht. Lernbegleiter*innen gestalten Umgebungen so, dass sie Anschlussmöglichkeiten für Lernkommunikationen schaffen, ohne den Lernprozess selbst zu bestimmen.

Autonomie, Eigenlogik und Selbstorganisation: Die Postulate der Bioagogik (respektvoller Umgang, autonomes Lernen, gestaltete Umgebung, ins Gelingen verliebt sein) betonen die Autonomie der Lernenden. Luhmanns Theorie lehnt den Subjektbegriff als Ausgangspunkt ab und konzentriert sich auf die Eigenlogik operativer Schliessung. Beide Ansätze erkennen, dass Systeme nicht trivial kontrollierbar sind. Lernende wie soziale Systeme folgen einer internen Logik; externe Eingriffe können nur Rahmenbedingungen schaffen, die das System in seiner Eigenlogik verarbeitet.

Kommunikation und Lernen: In der Bioagogik ist die Gestaltung der Lernumgebung auch eine Frage der Kommunikation. Lernbegleiter*innen schaffen Lern- und Gesprächsanlässe, bieten Materialien an und reflektieren gemeinsam mit den Lernenden. Luhmanns Systemtheorie definiert soziale Systeme als Kommunikationszusammenhänge. Lernprozesse lassen sich demnach als Ketten von Kommunikationen beschreiben, in denen Informationen, Mitteilungen und Verstehen miteinander verknüpft werden. Eine bioagogische Lernumgebung ist erfolgreich, wenn sie vielfältige Kommunikationsmöglichkeiten eröffnet und so die Anschlussfähigkeit von Lernkommunikation erhöht.

Funktionale Differenzierung und Bildungssystem: Luhmann beschreibt Bildung als eigenes Funktionssystem mit dem Code besser / schlechter. Das traditionelle Schulsystem bewertet und selektiert Lernende nach diesem Code. Die Bioagogik kritisiert diese funktionale Logik und schlägt einen Paradigmenwechsel vor: Statt Lernende als Objekte des Bildungssystems zu betrachten, werden sie als selbstlernende Subjekte in offenen Umgebungen begleitet. Indem die Bioagogik den pädagogischen Code „besser / schlechter“ auflöst, widersetzt sie sich der funktionalen Differenzierung des Bildungssystems und will so neue Formen sozialer Systeme des Lernens initiieren.

Systemisches Denken als Hintergrund: Obwohl Peter Fratton selbst in seinen Schriften nur selten explizit auf die Systemtheorie verweist, lassen sich Parallelen erkennen. Die Vorstellung, dass Lernen emergent entsteht und nur indirekt beeinflusst werden kann, spiegelt systemisches Denken wider. Beide Theorien betonen Komplexität, Selbstorganisation und Kontingenz. Ein systemtheoretischer Blick unterstützt die Bioagogik, Lernumgebungen nicht als lineare Instruktionsmaschinen zu betrachten, sondern als dynamische, vernetzte Systeme, die sich ständig verändern. Umgekehrt kann die Bioagogik die Systemtheorie mit einer anthropologischen Perspektive ergänzen und zeigen, wie Menschen in diesen Systemen ihre Resonanzfähigkeit erhalten.

Praktische Implikationen

Gestaltung von Lernumgebungen: Aus systemtheoretischer Sicht sollten bioagogische Lernumgebungen vielfältige Anschlussmöglichkeiten bieten. Statt starre Lehrpläne zu diktieren, werden Materialien, Räume und soziale Arrangements bereitgestellt, die Lernende anregen und ihre Eigenlogik respektieren. Das Konzept der gestalteten Umgebung lässt sich als strukturelle Kopplung zwischen psychischen Systemen (Lernenden) und sozialen Systemen (Kommunikation) interpretieren. Lernbegleiter*innen beobachten kontinuierlich, welche Strukturen Resonanz erzeugen, und passen die Umgebung an.

Rolle der Lernbegleiter*innen: Im Sinne der Systemtheorie sind Lernbegleiterinnen Teil des Systems und gleichzeitig dessen Beobachterinnen. Ihre Aufgabe besteht darin, Kommunikationsprozesse wahrzunehmen und zu reflektieren. Sie greifen nicht direkt in die Lernlogik der Lernenden ein, sondern gestalten die Umwelt, indem sie Materialien, Feedback und Dialoge anbieten. Diese reflexive Haltung deckt sich mit dem konstruktivistischen Ansatz der Systemtheorie.

Überwindung linearer Steuerungsfantasien: Sowohl Bioagogik als auch Systemtheorie warnen vor der Illusion, Lernprozesse linear planen oder kontrollieren zu können. Luhmann macht deutlich, dass Systeme operativ geschlossen sind, und die Bioagogik fordert einen Verzicht auf „Belehrung, Motivierung, Erziehung und Beibringen“. Stattdessen plädieren beide Ansätze dafür, Lernprozesse zu begleiten, emergente Dynamiken zu beobachten und Strukturbedingungen so zu verändern, dass Lernen nicht erschwert wird.

Bioagogik und Systemtheorie bieten zwar zwei unterschiedliche, aber komplementäre Perspektiven auf menschliches Lernen und soziale Ordnung. Die Bioagogik betont die Anthropologie des Lernens: Lernen ist eine existenzielle Form des Menschseins und lässt sich nicht vorschreiben. Die Systemtheorie liefert ein theoretisches Rahmenwerk, um die Komplexität und Selbstorganisation von Lernprozessen im Zusammenspiel von System und Umwelt zu verstehen.

Der Zusammenhang zwischen beiden Konzepten liegt in der Ablehnung linearer Steuerung, der Betonung von Autonomie und der Einsicht, dass Lernprozesse emergent aus der Interaktion mit der Umwelt entstehen. Systemisches Denken kann bioagogische Ansätze bereichern, indem es die Aufmerksamkeit auf Kommunikation, Strukturbildung und funktionale Differenzierung lenkt, während die Bioagogik die Systemtheorie daran erinnert, dass Lernen eine zutiefst menschliche, sinnorientierte Tätigkeit bleibt.

Die Dokumentation zeigt, dass Bioagogik Lernen als existenzielle Lebensform begreift und die Rolle der Lehrenden radikal neu definiert. Die systemtheoretische Perspektive macht deutlich, dass soziale Systeme wie Lernumgebungen aus Kommunikation entstehen und ihre eigenen Regeln entwickeln. Durch den Vergleich beider Ansätze wird deutlich, dass sich Lernprozesse nicht linear steuern lassen, sondern als emergente Phänomene verstanden werden müssen, die durch gestaltete Umgebungen und respektvolle Begleitung begünstigt werden.

Wenn Belehrung überflüssig wird, ist die Umgebung angemessen gestaltet, denn wer belehrt statt begleitet stört Lernprozesse. Kein Lehrer wirkt durch Inhalte, sondern nur durch Haltung.

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