Welche Bedeutung hat Piagets Werk für die Bioagogik

Peter Fratton

Jean Piaget hat uns gezeigt, dass Entwicklung kein Unterrichtsprogramm ist, sondern ein Lebensprozess. Seine Forschung ist eine Einladung, das Lebendige im Kind zu verstehen. Was wir heute daraus lernen können, ist nicht, wie wir Kinder „besser fördern“, sondern wie wir Umgebungen so gestalten, dass das Leben darin geschehen darf. Die Bioagogik baut auf den Gedanken Piagets auf.

Vom Kind als Schüler zum Kind als Lebewesen

Piaget sprach von der „inneren Strukturierung“, einem Prozess, durch den das Kind aus eigener Aktivität Sinn bildet. Die Bioagogik nennt das autonomes Lernen. Leben organisiert sich von innen her. Es braucht Nahrung statt Steuerung. Sobald wir versuchen, diesen Prozess zu kontrollieren, zu beschleunigen oder zu messen, verlieren wir das, was wir fördern wollten: Lebendigkeit.

Darum ist die erste Konsequenz:
Eine gestaltete Umgebung ist nicht eine pädagogische Inszenierung, sondern ein lebendiger Raum, in dem das Leben sich anpassen kann. Sie ist offen, vielfältig, in gewisser Weise unvorhersehbar und zugleich verlässlich. Offenheit bedeutet: Das Kind kann selbst wählen, was es tut, entdeckt, womit es sich verbindet, und bestimmt das Tempo seiner Anpassung. Verlässlichkeit bedeutet: Es gibt Orientierung, Schutz und den Rahmen des gegenseitigen Respekts.

Bewegung, Sprache und Stille als Lebensfunktionen

Sich bewegen, reden, schweigen, ausprobieren, erforschen sind Lebensäusserungen, die grundsätzlich keine Schulmethoden brauchen. Wenn ein Kind nicht mehr spielen oder reden will, wenn es sich langweilt oder erschöpft wirkt, dann fehlt der Umgebung etwas, was seine Lebensform unterstützt.
Bioagogisch betrachtet ist das kein Disziplinproblem, sondern ein Signal: Etwas in der Umgebung passt nicht zur Lebenslogik dieses Kindes. Kinder brauchen Räume, in denen sie atmen, sich schmutzig machen, experimentieren, sich zurückziehen, träumen und gemeinsam entdecken dürfen. Überstimulation und Fremdsteuerung zerstören diesen Rhythmus genauso wie Unterforderung und Langeweile. Eine gestaltete Umgebung ist ein ökologisches Gleichgewicht aus Herausforderung und Geborgenheit. Die übliche Schule mit Lektionen, Stundenplan und Klassenunterricht schafft das rein aus strukturellen Gründen nicht.

Spiel und Arbeit – zwei Worte für dasselbe Tun

In der Bioagogik gibt es keine Trennung zwischen „Spiel“ und „Arbeit“, keine «Work-life-balance». Beides sind Formen des tätigen Lebens. Wenn Kinder ungestört forschen, konstruieren oder sich Geschichten ausdenken, sind sie weder Schüler noch Freizeitbeschäftigte sie sind einfach lebendig. Darum ist eine gestaltete Umgebung kein Klassenzimmer, sondern eine Haus des Lernens mit Lernatelier, Marktplatz, Laboren, Bewegungsangeboten, Rückzugsräumen. Regeln entstehen dort nicht aus Disziplin, sondern aus gemeinsam gemachter Erfahrung. Sie sind beweglich, weil sie vom Leben selbst hervorgebracht werden. Kultur ist nicht etwas, das man lernt, sondern etwas, das wächst, wenn Menschen in ihrer Umgebung tätig sind. Sprache, Werkzeuge, Musik, Zahlen, Bücher, alles sind Verdichtungen gelebter Erfahrung.
Ein Kind muss diese Wege nicht „nachlernen“, sondern neu begehen. Wenn wir ihm nur fertige Produkte zeigen, fertige Geschichten, fertige Bilder, fertige Antworten, dann verhindern wir, dass es sich selbst in die Welt hineinerfindet. Darum gehört zur gestalteten Umgebung das Unfertige, das Natürliche, das Unberechenbare. Sie enthält Erde, Wasser, Holz, Ton, Geräusche, Tiere, Technik, Menschen. Sie ist eine Welt im Kleinen, in der das Kind als Weltwesen leben darf. Eine Schule sollte daher immer ein Lerndorf sein. (sieh z.B. die Alemannenschule Wutöschingen)

Das Gleichgewicht von Routine und Überraschung

Leben braucht Rhythmen: Tag und Nacht, Ruhe und Bewegung, Wiederkehr und Wandel.
Auch eine bioagogische Umgebung lebt aus diesem Wechsel. Sie hat vertraute Strukturen und gleichzeitig Momente der Irritation: neue Menschen, neue Fragen, neue Materialien. Kinder sollen erleben, dass die Welt sich verändert, ohne dass sie ihren Halt verlieren.
Routine gibt Sicherheit – Überraschung gibt Wachstum. Die entscheidende Frage ist: Wollen wir, dass Kinder viel wissen oder viel verstehen? Wissen kann man anhäufen. Verstehen kann man nur erleben. Verstehen wächst, wenn Menschen sich begegnen, wenn sie Fehler machen, wenn misslingen darf, wieder beginnen, miteinander reden, einander zuhören. Eine gestaltete Umgebung ermöglicht solche Begegnungen zwischen Kindern verschiedener Altersstufen, Herkunft, Sprachen und Begabungen, und zwischen Kindern und Erwachsenen, die nicht belehren, sondern teilhaben lassen.

Gegenwart statt Aufschub

Ein Kind lebt nicht „auf später hin“. Wenn es immer hört: „Das lernst du nächstes Jahr, das brauchst du später, das wird wichtig für die Zukunft“, dann verliert es den Kontakt zum eigenen Jetzt, denn Lernen geschieht nur in der Gegenwart.
Bioagogik versteht Lernen als Daseinsform, als Ausdruck des Lebendigseins im Hier-und-jetzt.
Darum ist eine gestaltete Umgebung eine Einladung, im Jetzt zu leben: zu forschen, zu lachen, zu bauen, zu irren, zu verstehen.

Piaget hat das Kind beschrieben. Die Bioagogik erinnert daran, dass auch die Erwachsenen sich verändern. Wir sind nicht „fertig“, während die Kinder wachsen. Wir wachsen mit ihnen.
Wir sind, wie er es poetisch ausdrücken könnte, Kaulquappen im Übergang: halb in der Welt, die uns geprägt hat, halb in der Welt, die wir mit den Kindern erschaffen.

Wenn wir mit Kindern leben, gestalten wir nicht ihre Zukunft, sondern die Gegenwart, in der Zukunft schon begonnen hat. Zukunft ist kein Ziel für Kinder, sondern ein Nebenprodukt gelebter Gegenwart.

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