Das fraktale Begleitungsprinzip in einem Haus des Lernens

Vieles hätte ich verstandenwenn man es mir nicht erklärt hätte. Stanislaw Jerzy Lec, polnischer Lyriker

Vom 7G-Unterricht zur 8V-Begleitung

Bei der Gründung des ersten Hauses des Lernens war es mein Ziel, vom 7G-Unterricht wegzukommen (Alle gleichaltrigen Schüler haben beim gleichen Lehrer zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Zimmer mit dem gleichen Lehrmittel das gleiche Ziel gleichgut zu erreichen) hin zur 8V-Begleitung (Auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Menschen an vielfältigen Orten zu vielfältigsten Zeiten mit vielfältigen Materialien in vielfältigen Schritten mit vielfältigen Zielen in vielfältigen Rhythmen zu den gemeinsamen Kompetenzen).

Viele gutgemeinte Reformen fokussieren sich darauf, den 7G-Unterricht zu reduzieren bis hin zum 1G-Unterricht. Aber auch das ist G-Unterricht und damit vielleicht eine Reform aber keine Innovation*. Die Innovation besteht darin, vom Unterricht zur Begleitung zu kommen, weg von (G-)Unterricht hin zur (V-)Begleitung.

Wie kann die 8V-Begleitung funktionieren?

Wie kann das funktionieren, ohne im pädagogischen Chaos zu stranden? Die Analyse der 8-V-Begleitung zeigt, dass es sich dabei um eine komplexe Situation handelt. Die Erziehungswissenschaft hat sich nur marginal mit der Meisterung komplexer Situationen befasst. Aber aus der Kybernetik und der Systemtheorie ist bekannt, dass komplexe Situationen bewältigbar sind, wenn sie auf der Basis von gemeinsamen Grundsätzen, Regeln und Ordnungsprinzipen fussen. Es scheint fast ein Paradoxon zu sein, dass autonomes Lernen nur funktionieren kann, wenn sich alle Beteiligten auf gemeinsame Grundsätze, Regeln und Ordnungsprinzipen einigen, also auf eine GEMINSAME Haltung.

Ich erinnere mich an die Anfangszeit meiner Begleitung der Alemannenschule in Wutöschingen. Erst einige Zeit nach unserer ersten Begegnung gestand mit Stefan Ruppaner: «Weisst Du, zuerst dachte ich, was redet der immer von der Haltung. Er soll endlich mal sagen, wie man es macht, Haltung habe ich selbst. Erst später habe ich gemerkt, es ist das Fundament.»

Grundsätze, Regeln und Ordnungsprinzipien in einem Haus des Lernens

In einem Haus des Lernens sind die Grundsätze die beiden Axiome, die Regeln nennen wir Postulate – sie sind unveränderbar – und die Ordnungsprinzipien sind die veränderbaren Regeln.

Die zwei Axiome

  1. Lernen ist eine Existenzform.
  2. In jeder (Lern)umgebung geschieht das, was der Umgebung angemessen ist.

Beide Axiome haben Konsequenzen: Wenn Lernen eine Existenzform ist, dann lernt der Mensch immer. Ohne Lernen verliert er sein Menschsein. Bei einer anderen Existenzform leuchtet das Axiom sofort ein, beim Atmen. Jeder weiss, dass es ohne Atmen nicht geht. Und niemandem käme es in den Sinn, einem Menschen mit Atembeschwerden zu sagen: «Er könnte schon, er ist nur zu faul zum Atmen. Genau solche Spräche hört man im Bereich des Lernens: Er könnte schon, er ist nur zu faul. Ja, es gibt Lernbeschwerden. Diese können einen äussern oder inneren Grund haben. Nicht selten liegen die äussern Gründe im Schulsystem selber. Lernbeschwerden bedürfen der Heilung nicht der Verurteilung. 

Kein Mensch muss also gemäss diesem Axiom das Lernen lernen, denn wenn Lernen eine Existenzform ist, ist es ein selbstgesteuerter, strukturdeterminierter Prozess und der braucht höchstens eine begleitende nichtdirektive Didaktik, also eine „Unterstützung auf Wunsch“ beim Aufbau von Wissensnetzen. 

Das zweite Axiom besagt, dass jedes Verhalten der Umgebung angemessen ist. Ein sehr anschauliches Beispiel, wie die Umgebung das Verhalten prägt, ist das Stanford-Gefängnis-Experiment von Philipp Zimbardo, das er 1971 an der Universität Stanford durchführte. Zimbardo wählte aus Bewerbern der Mittelschicht 24 Personen aus, die er nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen einteilte: Die einen waren die Wärter und die anderen die Gefangenen. Im Keller der Universität wurde eine Umgebung für Wärter und Gefangene gestaltet, ein Gefängnis. Und die beiden Gruppen begannen, sich umgebungsangepasst, wenn auch unmenschlich zu verhalten. Das Experiment geriet schnell ausser Kontrolle und Zimbardo musste es vorzeitig abbrechen, weil dermassen Übergriffe passierten, dass eine weitere Durchführung zu gefährlich wurde.

Aufgrund des 2. Axioms sehe ich unangemessene Verhaltensweisen in (Lern)umgebungen als Disfunktionlität im System, die es möglichst frühzeitig zu erkennen gilt. Ziel ist nicht mehr die rasche Beseitigung von Problemverhalten und die Bestrafung der Normbrecher, sondern die Weiterentwicklung der Umgebung unter geteilter Verantwortung aller Mitglieder (Lernpartnerinnen, Lernbegleiterinnen, Hauswart, Eltern).

Erst auf diesen zwei Axiomen als pädagogische Haltungsgrundlagen machen die folgenden vier Postulate (unveränderbare Regeln) Sinn.

Die vier Postulate in einem Haus des Lernens

  1. Wir gehen respektvoll um mit Menschen, Tieren und Materialien
  2. Wir unternehmen alles, damit jede autonom (aus sich selbst heraus) lernen darf.
  3. Gemeinsam gestalten wir unsere Lernumgebung (menschlich, organisatorisch, strukturell und architektonisch)
  4. Bei allem, was wir tun, sind wir ins Gelingen verliebt (Teil eines Zitates von Ernst Bloch: Ins Gelingen verliebt sein, nicht ins Scheitern.)

Diese vier Postulate haben wir in ein fraktales Kleid gebracht. Ein Fraktal ist ein einfaches Grundmuster, das durch ständige Wiederholung immer neue Formen hervorbringt. Fraktal aufgebaut sind beispielsweise die Eisblumen an Fensterscheiben im kalten Winter.

Dieses Grundmuster ist hier die Koch-Kurve. Unsere vier Postulate denken wir uns als Koch-Kurve:

Durch die Wiederholung des Fraktals entsteht eine faszinierende Ästhetik:

Allerdings entsteht diese nur, wenn wir das Grundmuster nie verändern. Wenn einer findet, der eine Schenkel des Fraktals sei zu lang, der andere findet den Winkel zu gross, zerfällt diese ganze Schönheit. Die konsequente Einhaltung der 4 Postulate führt zu einer pädagogischen Ästhetik und zu Emergenz. Als pädagogische Emergenz bezeichne ich das Phänomen, bei dem durch die konsequente Einhaltung der 4 Postulate neue Eigenschaften oder Verhaltensweisen entstehen, die nicht direkt aus den Eigenschaften der Einzelteile ableitbar sind, z.B. Verständnis, Zuneigung, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Achtsamkeit, Abwesenheit vom Mobbing und Gewalt etc. Was in Leitbildern gefordert, in Achtsamkeitsseminaren gelernt, in Lektionen moralisiert wird, erübrigt sich allein durch die konsequente Einhaltung der Postulate auf der Basis der beiden Axiome für alle Beteiligten.

Ordnungsprinzipien als veränderbare Regeln

Die Ordnungsprinzipien sind die veränderbaren Regeln. Sie werden in einem Haus des Lernens durch LernbegleiterInnen und LernpartnerInnen gemeinsam festgelegt und bekommen nur Gültigkeit, wenn sie in der Kleinen Kammer (VertreterInnen der LernbegleiterInnen) und der Grossen Kammer (Vertreterinnen der Lernbegleiterinnen) eine Mehrheit finden.

Die Postulate kann jede Schule adaptieren. In der Alemannenschule haben sie z.B. statt «ins Gelingen verliebt sein» «mit dem Herzen dabei sein» gewählt.

Schlussgedanke: Die Respektierung der Axiome und Postulate und ihre fraktale Umsetzung verlangen wir von allen Beteiligten. Mit den LernpartnerInnen werden sie im sozialen Lernen stetig reflektiert, mit den Eltern an Elternkursen eingeführt und mit den LernbegleiterInnen und MitarbeiterInnen im gegenseitigen Coaching regelmässig evaluiert. 

*Innovation: Wenn Sie nach einer Veränderung Ihr eigenes Aufgabenfeld wiedererkennen oder das Leistungsangebot Ihrer Schule nicht grundlegend verändert wird, und deshalb Ihr grundlegendes Wissen und Können weitgehend ausreicht, liegt eine Optimierung vor. Wenn die Veränderungen tiefer gehen und Sie neue Denk- und Handlungsmuster entwickeln müssen, handelt es sich um Innovation. Der Vorteil der Optimierung ist, dass Sie die Sicherheit haben, auf Ihrem Wissen und Können aufbauen zu können. Der Nachteil ist, dass Sie immer mehr zu tun haben, sodass verständlicherweise die Lehrerinnen genug haben von „all diesen Reformen“. Innovation braucht Mut, Initiative und Resilienz, aber sie hat einen enormen Vorteil: Nach der Innovation hat sich das Problem auch gelöst, aber es gibt nicht mehr zu tun, sondern weniger. Ein Indikator für eine Innovation ist es geradezu, dass man mit weniger Aufwand mehr erreicht. Eine pädagogische Innovation ist z.B. statt immer weniger Kinder in der Klasse, gar keine Klassen mehr. Oder statt immer weniger Unterrichtsstunden gar keinen Klassenunterricht. LehrerInnen können gelassen, entspannt und fasziniert ihre Arbeit machen. Statt 22 Lektionen zu 45 Minuten begleiten sie 8 Inputs zu 20 Minuten und zwei Clubs an zwei Nachmittagen. Sie haben Zeit für Gespräche unter vier Augen. Dazu braucht es kein einziges Stellenprozent mehr.

4 Kommentare

  1. axiome explizieren. supr

    und wann radikalisierst du dich, wie es die radikalen konstruktivisten es vorgemacht haben?

    schule ist teil von problem. nicht teil von lösung.

    ziemlich von beginn weg… 😦 sms 😉

    #dfdu AG konstellatorische kommunikation stefan m. seydel casa pazzola via cavardiras 10 ch 7180 dissent.is/muster

    +41 79 21 999 22

    microblogging: @sms2sms blog: dissent.is home: dfdu.org about: dfdu.org/sms

    🍄👾🚀 MYZELT EUCH

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  2. Ein toller Artikel, Herr Fratton!

    Das mit der Wiederholung des Fraktals, habe ich aber leider nicht ganz verstanden. Wie geht das? Ich finde in der schönen Grafik leider das Muster des Fraktals nicht wieder. Können Sie mir zu der Thematik ein gutes Buch empfehlen?

    Warum wurde die Koch-Kurve als Grundmuster gewählt?

    Viele Grüße aus Coburg

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    • Lieber Hans, danke für Deine Rückmeldung. Die Frage nach der Kochkurve lässt sich leicht beantworten: Sie hat als Grundmuster 4 Schenkel und in meinem Konzept des autonomen Lernens gibt es vier Postulate. Die andere Frage: Wie geht es mit der Wiederholung des Fraktals. Die Eisblume an der Fensterscheibe entsteht durch die stete Wiederholung dieses Grundmusters der Kochkurve. Eine, wenn auch etwas mathematische, Veranschaulichung bietet dieses Video: https://www.youtube.com/watch?v=Q7f7tLXdvF4.
      Fraktale entstehen oft durch iterative Prozesse: Eine einfache Regel (Kochkurve oder bei uns im übertragenen Sinne Postulate) wird immer wieder angewendet. Obwohl die Regel simpel ist, entstehen daraus komplexe Strukturen, die mehr sind als die Summe ihrer Teile – das ist genau das Prinzip der Emergenz.
      Ich hoffe, das bringt Sie den Fragen etwas näher.
      Herzlicher Gruss
      Peter Fratton

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