Schulen schliessen – warum nicht?

Peter Fratton

Über Schulschliessungen als Mittel zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie wird weltweit heftig gestritten. Die Gefahr, dass Kinder eine Erkrankung mit dem Covid-Erreger erleiden, soll vergleichsweise gering sein, aber es ist nicht klar, in welchem Masse Kinder Covid-Viren übertragen. Zu dieser Unklarheit nahmen ETH-Autoren Stellung. Sie zeigten auf, dass Schulschliessungen dazu beitragen, das Risiko einer Übertragung des Virus deutlich zu verringern, indem die Anzahl Bewegungen und Kontakte reduziert werden. Demzufolge sind Schulschliessungen eine hilfreiche Möglichkeit, die Pandemie einzudämmen.

Besorgte Fachleute

Lehrkräfte, Politiker und Forscher sind besorgt, dass sich das Kompetenzniveau durch Homeschooling allgemein verschlechtere . Dazu gibt es wiederum Studien: In einem Lebenszyklusmodell zeigen Fuchs-Schündeln et al. (2020) die langfristigen Wohlfahrtsverluste von Kindern, die durch die Schulschließungen in der Covid-19-Krise verursacht wurden. Unter der Annahme von Schulschließungen im Ausmaß von einem halben Jahr sollen sich drei Hauptergebnisse zeigen:

  • Schulschließungen führen zu erheblichen Wohlfahrtsverlusten der Kinder, mit einer Reduktion des Konsumäquivalents von durchschnittlich -0,65% – trotz einer erhöhten Humankapitalinvestition der Eltern. Somit haben diese vorübergehenden Maßnahmen erhebliche dauerhafte Auswirkungen auf das Wohlergehen der Kinder.
  • Schulschließungen spielen für die Wohlfahrt der betroffenen Kinder eine wichtigere Rolle als der negative Schock für das elterliche Einkommen: Rechnet man den negati- ven Schock durch das elterliche Einkommen hinzu, so steigt die Reduktion des Kon- sumäquivalents auf -0,75%.
  • Es zeigt sich eine beträchtliche Heterogenität bei den Wohlfahrtseffekten nach Haus- haltshintergrund: Kinder von wohlhabenden Eltern haben geringere Wohlfahrtsverluste als Kinder von weniger wohlhabenden Eltern.

Die Ergebnisse von Fuchs-Schündeln warnen also davor, dass die Schulschließungen erhebliche langfristige Folgen für die betroffenen Kinder (insbesondere jüngere Kinder) haben und insbesondere die Wohlfahrt von Kindern aus benachteiligten Haushalten negativ beeinflussen.

Erfolgreich trotz Coronamassnahmen

Die Ergebnisse der Studien sind nicht von der Hand zu weisen, aber sie fussen auf dem Fundament, dass Schulschliessung bedeutet, dass es kein oder kaum Lernen gibt, bzw nur ein Lernen unter Druck und Kontrolle zum Erfolg führe. Fehlen diese, wird nicht gelernt. Je nach Haushaltshintergrund sind Druck und Kontrolle unterschiedlich. Bildungsfernere Eltern üben weniger Kontrolle und Druck aus. Sieht man sich die Ergebnisse im Bereich des Kompetenzzuwachses bei Homeschoolings im Vergleich zum Präsenzunterricht an unterschiedlichen Schulen an, gibt es interessante Unterschiede, die nicht nur mit dem Haushaltshintergrund zu tun haben. Es gibt Schulen, wo die Kinder durch die Schulschliessung die gleichen Kompetenzgewinne verbuchen konnten wie im normalen Lernen in der Schule. Aber diese Schulen zeichnen sich durch eine Eigenschaft aus: Sie lassen den Kindern auch in der Schule ein hohes Mass an Lernfreiheiten. Die Kinder kennen ihre Ziele. Sie verfügen über strukturierte Materialien um diese Ziele zu erreichen und zudem über unstrukturierte Materialien für das eigene entdeckende Lernen. Sie lernen nicht für Lehrer sondern mit ihnen, nicht für Klausuren sondern sind bestrebt, anhand von Gelingensnachweisen sich zu versichern, dass sie ihre Ziele erreicht haben. Das Klima ist ein ganz anderes als in einer konventionellen Schule: Der Druck von aussen wird überflüssig durch vereinbarte Ziele aus dem Interessensbereich und / oder dem Berufsziel des Kindes, fremdverlangte Ziele werden ersetzt durch eigenverlangte.

Schule schliessen kann vom Kompetenzerwerb her problemlos sein

Vom Kompetenzerwerb her ist in einer entsprechend gestalteten Schule eine sogenannte Schulschliessung keine Schliessung sondern eine Verlagerung des Lernortes ohne irgendwelche Nachteile für den Kompetenzerwerb. Was Lehrer jedoch im Blick behalten sollten ist die Möglichkeit des Erhalts der sozialen Kontakte untereinander. Dieser Aspekt gilt aber für alle Menschen, die den Lockdownregeln unterworfen sind. Es stellt sich nicht die Frage, wie sorgen wir für die sozialen Kontakte bei den Kindern sondern bei uns allen. Wie lösen Sie als Vater, Mutter, Vorgesetzter, Chef, Politiker dieses Problem für sich? Aufgrund der gleichen Lösungsansätze können es auch die Kinder tun.

Leider sind die meisten Schulen für ein Lernen ohne Druck und Fremdkontrolle nicht vorbereitet. Sie haben ihre Erfahrungen gemacht, dass es ohne nicht geht und ihre SchülerInnen genauso. Die Ergebnisse des Homeschoolings bestätigen sie und Forschungen wie die von Fuchs und Schündeln bestätigen sie zusätzlich.  Dabei beisst sich die Katze in den eigenen Schwanz: Wer glaubt, ohne Lehrer lernen die Kinder nicht, ohne Druck leisten sie nichts, ohne Kontrolle weiss keiner, wo das Kind steht, wird durch die Erfahrung bestätigt. Also braucht es den Lehrer, der für all das sorgt. Das kann er mit Homeschooling weniger, ergo sinkt der Kompetenzzuwachs. Diesen können Forscher vergleichen und bekommen ein Resultat, mit dem sie beweisen können, welche negativen Folgen Schulschliessungen haben. Und tatsächlich haben alle recht. Nur berücksichtigen sie nicht, dass es anders gehen muss, dass sie auf unreflektierten, seit Jahrzehnten tradierten Grundvoraussetzungen aufbauen, dass sie von Problemen ausgehen, die erst durch die gängige, seit Jahrzehnten zementierte Form des schulischen Lernens entstanden sind.

Niemand muss das Lernen lernen, wie häufig kolportiert wird. Nein, Lernen ist eine Existenzform des Menschen: Der Mensch lernt immer und dass er – im Gegensatz zu den Tieren – nicht nur über Konditionierung lernt, sondern durch Einsicht und Freude am Lösen von Problemen, findet in einer üblichen Schule zu wenig Beachtung.

Corona als Herausforderung, Lernen  neu zu denken

Corona ist neben allem Widerwärtigen eine Chance, die Institution Schule zu hinterfragen und Lernen neu zu denken. Das geht nur, wenn man die Chancen erkennt und sich nicht auf den Problemen ausruht indem man ihre Unlösbarkeit formuliert. Wenn wir Lernen neu denken, müssen wir uns bewusst sein, dass Lernen eine Existenzform ist. Wir müssen uns zudem bewusst sein, dass es geeignete und ungeeignete Lernumgebungen gibt, die Lernprozesse fördern oder hemmen. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir auf dieser Ausgangsbasis Lernumgebungen gestalten in menschlicher, organisatorischer, struktureller und architektonischer Hinsicht. Wir machen Homeschooling nur unbedeutend besser, wenn wir alle SchülerInnen mit iPads ausstatten, auf denen sie Schulbücher und Arbeitsblätter finden. Eine geeignete Struktur erfordert viel mehr: Wissen um die eigenen und fremden Ziele, eine Vielfalt zur Zielerreichung geeigneter Materialien, gestaltete Lernräume in Schule und zu Hause, Menschen, die selber auch Lernende sind und bereit sind, dieses Lernen zu teilen, statt das Lernen von Kindern zu kanalisieren und zu kontrollieren. Das ist die menschliche Gestaltung. Dieser  Artikel würde zu umfangreich, wollte ich meine Aussagen weiter differenzieren, aber ich hoffe, der Ansatz wird sichtbar.

Dass es heute noch Schulen gibt, die auf ein W-Lan verzichten, weil sie befürchten, die SchülerInnen könnten dann unbeaufsichtigt ins Netz, ist für mich fast nicht nachvollziehbar und zeigt die Notwendigkeit, dank Corona das Lernen neu zu denken.

Schulschliessung auf der Primarstufe

Ein weiteres häufiges Argument gegen die Schulschliessung ist die Begründung, Kinder auf der Unterstufe könnten kein Homeschooling machen. Das ist wohl mehrheitlich richtig und doch ist die Lösung sehr nah und auf der Hand: Das macht doch nichts im Bezug auf Kompetenzzuwachs. Wir müssen nur für möglichst gute Sozialkontakte besorgt sein.

Warum ich auf diese Lösung komme? Der Stoff der Sekundar- und Primarschule, den es für eine weiterführende Schule oder den Eintritt in eine Berufslehre braucht, kann ein Jugendlicher sich in einem Jahr erarbeiten. Allerdings weiss er dann wahrscheinlich nicht, welche beiden Täler der Chrüzlipass verbindet, aber – wenn Lernen eine Existenzform ist – hat er anderes gelernt. Vielleicht oder wahrscheinlich Dinge, die wichtiger sind als der Chrüzlipass. Demzufolge könnte man die Schule ohne grosse Wissens- oder Kompetenzrückstände in Kauf zu nehmen ohne weiteres für etliche Monate schliessen. Damit ist allerdings nur die Lernsituation gelöst, nicht die Problematik der Sozialkontakte.  Nun können sich Kinder bereits im Kindergarten genauso an Regeln halten wie Erwachsene und wenn diese als Vorbilder dienen, wird es im Rahmen des Möglichen zu Sozialkontakten kommen.

Was braucht der Mensch zur erfolgreichen Lebensbewältigung?

Vor über 40 Jahren hat der damalige Wissenschaftsrat der Unesco sogenannte Schlüsselqualifikationen formuliert, die der Mensch zur erfolgreichen Lebensmeisterung braucht:

Fähigkeit

– zu lebenslangem (Dazu-)Lernen

– Theorie und Praxis zu verknüpfen

– zu planen

– zur Zusammenarbeit und Kommunikation

– Konflikte vernünftig auszutragen

– eigene Interesse zu vertreten

– Mitverantwortung zu übernehmen

– Symbole und unausgesprochene Hinweise zu verstehen

– sich Ziele zu setzen

Verständnis für techn. und gesellschaftliche Grundlagen

Ausdauer und Konzentrationsvermögen

Unterschiedlichen sozialen Rollen gerecht werden

Genauigkeit und Kreativität

Es ist sofort einsichtig, dass man diese Schlüsselqualifikationen in der Alltagsumgebung genauso gut lernen und erweitern kann wie in einer Schule, die mit Druck und Kontrolle Chrützlipassantworten verlangt!

Schlussfolgerungen

Aufgrund dieser Gedanken meine Schlussfolgerungen als Anregung:

  • Schliesst die Schulen bis keine Gefährdung mehr für Kinder und LehrerInnen besteht.
  • Haltet die Kontakte zu den Kindern am Morgen aufrecht.
  • Haltet euch für jedes Kind zweiwöchentlich 30 Minuten frei, um im persönlichen Gespräch unter vier Augen zu erfahren.
  • Richtet eine Hotline für Notfälle ein
  • Nutzt den Nachmittag, um gemeinsam Lernen neu zu denken:
  • Überlegt euch, was braucht es, um eure und die Autonomie der Kinder nachhaltig zu fördern damit alle ohne Druck, dafür mit Eifer, lernen dürfen.
  • Lernt von Schulen, die auch unter Covidbedingungen erfolgreich sind.
  • Verlangt und fordert von Politik und Verwaltung mit Nachdruck und Vehemenz alles, was es braucht, um dem neuen Lernen zum Durchbruch zu verhelfen und bedenkt dabei, dass die Verwaltung im Normalfall selten Neues will und die Politiker vor allem wiedergewählt werden möchten. Sie stehen insofern weder auf eurer Seite noch auf der der Kinder.

3 Kommentare

  1. Völlige Zustimmung. Die Anordnungen des Kultusministeriums Baden-Württemberg an die Schulen beziehen sich hauptsächlich auf die Frage, welche Arbeiten können wann geschrieben werden und wieviele, wann finden Prüfungen statt und wie geben wir Noten. Das ist immer noch die Grundlage des dreigliedrigen Schulsystems. Auf diesem fußt übrigens auch in vielen Schulen das Wirken der Lehrkräfte.

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