Margret Ruep war Rektorin der PH Weingarten und als Ministerialdirektorin oberste Beamtin im Kultusministerium von Baden-Württemberg. Mit ihr verbinden mich eine jahrelange Freundschaft und immer wieder interessante pädagogische Gedanken.
Ein unsichtbarer Virus fördert in seiner Wirksamkeit erhebliche Defizite unserer Gesellschaft zutage: Mängel, die auch zuvor seit Jahrzehnten sichtbar waren, die aber – warum auch immer – nicht behoben wurden oder werden wollten. Deutschland liegt nach einer Reihe von Studienergebnissen auf hinteren oder mittleren Rängen, so und vor allem auch im Bildungsbereich. Seit dem ersten PISA-Schock im Jahr 2000 stellt sich die Frage, ob immer wiederkehrende Messungen und die darauf erfolgten Reformen und Reförmchen in der Lage zu einer Systemverbesserung sind.
Wir messen und messen Jahr für Jahr aufs Neue – und jährlich grüßt das PISA-Murmeltier – und erfahren immer wieder neu die Defizite in den erhobenen Leistungsabfragen. Auffallend ist das Fehlen eines gesellschaftlichen im Diskurs entwickelten Maßstabs. Sucht man nach Aussagen von Bildungspolitikern hinsichtlich dessen, was Bildung sei, was das grundlegende Ziel, die wesentliche Wertorientierung sein sollen, dann findet sich ein Sammelsurium von Aussagen, die angesichts der Bedeutung von Bildung nicht zufriedenstellen können – umso weniger, je mehr diese Bedeutung betont wird.
Fakt ist, dass wir 16 unterschiedliche Systeme haben, die in ihrer Differenziertheit miteinander konkurrieren – umklammert von einer höchst komplizierten und als tendenziell ineffektiv wahrgenommenen Kultusministerkonferenz, die angesichts der erheblichen ideologischen Unterschiede der Einzelsysteme nie über den kleinsten gemeinsamen Nenner als Kompromiss hinausführen kann.
Bereits 2007 hat Anne Overesch in einer sehr detaillierten Studie den signifikant ‚konfliktintensiven‘ Politikstil in Deutschland im Bildungsbereich herausgearbeitet. Bildung sei demnach zum Spielball der Parteien in ihren diversen ideologischen Ausprägungen geworden, gefehlt habe ein gesellschaftlicher Diskurs mit dem Ziel einer gemeinsamen Vorstellung der normativen Grundlegung von Bildung.
Während der Corona-Pandemie haben Studien zu den Folgen für die Bildungssysteme gezeigt, welche Konsequenzen für Schüler*innen die politischen Maßnahmen mit sich bringen. Eines der großen Probleme in Deutschland ist die denkbar schlechte Vorbereitung des Bildungssystems auf digitale Lernformen (Rang 27 innerhalb Europas). Wo digitale Technik nicht vorhanden und Digital-Medienkompetenz bei Lehrkräften defizitär seien, wo die Technik in Elternhäusern nicht zur Verfügung stehe und Eltern ihre Kinder nicht hinreichend unterstützen könnten, seien die Nachteile für Kinder immens und kaum aufzuholen. Es gilt: Wer hat, dem wird auch hier gegeben. Zu wenig Unterricht wegen der notwendigen Schulschließungen und ein fehlender Ausgleich durch gute digitale Lösungen werde unvermeidlich Lücken hinterlassen. Am 14. April 2021 warnt die OECD vor ungleichen Chancen und ihr Vertreter für Bildungsfragen, Andreas Schleicher, sagt:
„Bildungssysteme, in denen die Lehrkräfte gewohnt sind, eine innovative Lernumgebung zu schaffen, sind auch in schwierigen Infektionslagen ganz gut und ohne lange Schulschließung durch diese Krise gekommen.“ (Tagesschau 2021[JZ1] )
In Deutschland gibt es zwar einzelne Schulen, auf die das auch zutrifft, wie die Vergabe des diesjährigen Deutschen Schulpreises zeigt. Es ist aber mitnichten die Regel, sondern das sind Ausnahmeschulen, die durch eigenes Engagement, oft mit viel Stehvermögen auch gegen die eigene ‚Obrigkeit‘, ihre Entwicklung zugunsten ihrer Schüler/innen vorangetrieben und durch ihre Erfolge überzeugt haben. Es zeigt vor allem auch, dass eine größere Eigenständigkeit der einzelnen Schulen längst überfällig ist.
Dass durch die Defizite in der Digitalisierung und der Medienkompetenzen zusätzlich ein gravierendes weiteres Problemfeld entstanden ist, sollte uns aufhorchen lassen, da es am Ende die Fähigkeit zur mündigen Teilhabe in einer funktionierenden Demokratie zu beeinträchtigen droht:
Am 4. Mai 2021 konstatiert Paul Munzinger in der Süddeutschen Zeitung auf der Grundlage einer Sonderauswertung der jüngsten PISA-Studie, dass 45% der deutschen Jugendlichen nicht in der Lage seien, Fakten von Meinungen zu unterscheiden. (SÜDDEUTSCHE 2021). [JZ2]
Besorgniserregend sei dies, folgert die Bundesbildungsministerin Anja Karliczek
– ohne weitere Konsequenz außer dem einfallslosen Vorschlag von Nachhilfeunterricht. In der Tat ist es das, besorgniserregend, vor allem, wenn man bedenkt, dass wir – zumindest seit Jahrzehnten gemessen – vor allem eine signifikante soziale Disparität im Bildungssystem zu verzeichnen haben, die bisher durch keine Maßnahme behoben werden konnte.
Es lohnt sich, hier einmal den Blick auf potentiell vorhandene tief verwurzelte mentale Modelle zu richten, indem man sich vor Augen führt, auf welche Vorstellungen 1949 das Bildungssystem in seiner traditionell auf in Ständen getrennten Gesellschaftsklassen beruht und das bis heute als Modell verteidigt wird.
Entgegen der Vorstellung der Alliierten von einer demokratischen Umgestaltung des Bildungswesens – die USA hatten eigens eine Expertenkommission eingesetzt – gab es in Deutschland gegen die vorgeschlagene demokratische und auf Demokratie ausgerichtete integrative Schule massive Widerstände, vertreten vor allem vom damaligen bayrischen Kultusminister Hundthammer mit der Vorstellung ‚biologisch gegebener Ungleichheiten‘, die ‚durch keine zivilisatorischen Maßnahmen beseitigt werden könnten‘. Das ist also reine NS-Ideologie, die hier ausschlaggebend war, obwohl die USA zuvor den deutschen ‚Untertanengeist‘ auf die Traditionen im Bildungssystem zurückgeführt hatten, der zur Unterstützung des nationalsozialistischen Unrechtssystems bis zum Untergang geführt hatte (BPB 2017.
Schon 1966 stellte der Philosoph Karls Jaspers fest: „Aus dem Jahrhunderte währenden Obrigkeitsstaat sind, ohne helles Bewusstsein, Gesinnungen geblieben, die heute noch mächtig sind.“ (146).
Durch die Reflexion der vielen Messungen und im Bewusstsein vielfältiger Analysen aus unterschiedlichen Fachgebieten zum Zustand der Welt, zu den diversen Zusammenhängen, in die der Bildungsbereich involviert ist und von denen er auch abhängt – historische, soziologische, politisch-ökonomische –, frage ich mich, inwieweit unsere mentalen Vorstellungen uns mit derartigen Scheuklappen versehen, dass wir nicht auf die Idee kommen, dass die immer wieder festgestellte soziale Disparität in der Bildung etwas mit dieser selektierend-hierarchischen Denkweise zu tun hat, die uns Kinder zu einem dafür völlig ungeeigneten Zeitpunkt in soziale Klassen trennen lässt, die am Ende – so auch der aktuelle Armutsbericht – nicht nur Bildungschancen, Aufstieg durch Bildung, zunehmend verunmöglicht, sondern auch einen ‚Armutshabitus‘ im Sinne Bourdieus verfestigt.
Das ist eine Gefahr nicht zuletzt für die Demokratie, wenn nicht einmal das Bildungssystem für eine geteilte Erfahrung sorgt durch gemeinsames Lernen mit der Fähigkeit, miteinander auszukommen und vor allem auch voneinander zu lernen, wo es nicht allein auf Noten und Leistungsergebnisse ankommt, sondern auch auf das Teilen von Werten und Vorstellungen, auf die Akzeptanz von Unterschieden, letztlich auf die Voraussetzungen, in einer Gesellschaft der Vielfalt teilzuhaben und friedlich zusammenzuleben. Ein besonders krasses Beispiel erscheint mir die Zergliederung in Schularten und Zuständigkeiten innerhalb der Bildungsverwaltung in Baden-Württemberg – extrem kostenintensiv zudem – wo man sich nicht einmal vernünftigerweise auf ein zweigliedriges Modell einigen konnte und wo die Implementierung der global vereinbarten Inklusion dann besonders absurd erscheint. Es ist viel zu tun, wenn man ernsthaft die Bildungschancen für alle gerecht machen will. Es geht um nichts Geringeres als um den Erhalt und die Qualitätsverbesserung unserer freiheitlichen Demokratie.
Fußnote
In Anlehnung an Pierre Bourdieu wird hier der Begriff Armutshabitus verwendet als ein sozial erworbenes klassenspezifisches inneres Dispositionssystem. Der Ausdruck Pädagogisches Apartheidssystem entstammt einem Zitat von Christian Füller in Münkler, H. / Münkler, M. (2019): Abschied vom Abstieg. S. 188. Berlin: Rowohlt.
Literatur
BPB (2017). Schulgeschichte nach 1945: Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart. Online: https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/229702/schulgeschichte-nach-1945 (16.05.2021)
Jaspers, K. (1966). Wohin treibt die Bundesrepublik? München.
Overesch, Anne (2007): Wie die Schulpolitik ihre Probleme (nicht) löst. Münster: Waxmann.
SÜDDEUTSCHE (2021). Viele Jugendliche können Fakten und Meinungen nicht unterscheiden. Online: https://www.sueddeutsche.de/politik/pisa-studie-lesen-fakten-1.5284164?fbclid=IwAR33swncxLe0BiRpvF5MnrpJkbQcaiIitJxtpTqAJzSFpfa40GZGHNArg5g (16.05.2021)
Tagesschau (2021). OECD warnt vor ungleichen Chancen. Online:
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/oecd-corona-schulen-101.html (16.05.2021)
Zur Autorin
PD Dr. Margret Ruep
Mitglied der Redaktion von Lehren & Lernen
margret@ruep.de
[JZ1]Gerne hier mit QR-Code/Link zur entsprechenden Meldung auf Tagesschau.de (siehe Literatur)
[JZ2]Gerne auch hier mit QR/Link